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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Wege und ziele der griechischen historie.
gedicht oder eine inschrift oder ein gewichtstück sein, und erstrebte ihre
volle lösung: die erschöpfung des geschichtlichen inhaltes.

Griechenland ward frei; der alte boden selbst begann jene belehrung
zu geben, die Italien stets wenigstens den Italienern geboten hatte, und
seinem schosse entstiegen und entsteigen noch immer reichlicher die
zeugnisse in so verwirrender menge, in so blendender frische und um
so viel reicher an problemen denn an lösungen, dass die arbeit nicht
nur in der weise Boeckhs, sondern selbst die ganz gedankenlose sammlung
und registrirung schon unerlässlich und verdienstlich ist und bleibt. es
wäre nur wünschenswert, dass sich nachgerade eine organisation dieser
registrirenden arbeit nach dem muster dessen ausbildete, was für Rom
erzielt ist.

Aber die im engeren sinne politische geschichte kommt darüber
leicht zu kurz; Boeckh selbst hat über die wichtigsten phasen der atti-
schen verfassungsgeschichte und die bedeutendsten personen kein ent-
schiedenes noch entscheidendes urteil gesprochen. wer die kurzen
einleitungen Droysens zu seiner Aristophanesübersetzung mit der über-
reichen erklärung vergleicht, die Boeckh den Olympien und Pythien
Pindars hat angedeihen lassen, kann sich leicht überzeugen, wo der
mann mit wirklich politischem blicke redet. der geschichtsschreiber
Alexanders und der preussischen politik hatte für das attische Reich
freilich in ganz anderer art das innere verständnis, das ihm die
anteilnahme an dem staatsgedanken des eigenen gemeinwesens verlieh.
obwol beträchtlich später erschienen ist die griechische geschichte von
E. Curtius dennoch gerade in dem was sie wirksam gemacht hat der
ausdruck der stimmung, mit dem das vormärzliche Deutschland die grie-
chische geschichte ansah. es ist ein werk der isokrateischen stilrichtung,
welche die geschichte unter die epideiktische beredsamkeit zählt, bestimmt
das edle zu loben, das schlechte zu tadeln, und zu dieser panegyrischen
haltung gesellt sich ein weicher oft elegischer ton, die leise trauer um
die verlorne schönheit. und da diese stimmung, der vergleichbar, wie
sie die ruinenstätten in uns wecken, ächt ist, wirklich gewonnen auf dem
alten boden, dessen durchforschung ernstlich in angriff genommen zu
haben das höhere verdienst des verfassers ist, da ferner die stilistischen
mittel bedeutende sind, so dass der leser, der überhaupt diesen ton ver-
trägt (und hoffentlich ist das jeder jüngling) nicht müde wird, so hat
das werk sehr stark auf die vorstellungen eingewirkt, die in Deutsch-
land und weit darüber hinaus von der hellenischen geschichte herrschen;
wo denn freilich die mittlerweile selbst sehr stark von politischen leiden-

Wege und ziele der griechischen historie.
gedicht oder eine inschrift oder ein gewichtstück sein, und erstrebte ihre
volle lösung: die erschöpfung des geschichtlichen inhaltes.

Griechenland ward frei; der alte boden selbst begann jene belehrung
zu geben, die Italien stets wenigstens den Italienern geboten hatte, und
seinem schoſse entstiegen und entsteigen noch immer reichlicher die
zeugnisse in so verwirrender menge, in so blendender frische und um
so viel reicher an problemen denn an lösungen, daſs die arbeit nicht
nur in der weise Boeckhs, sondern selbst die ganz gedankenlose sammlung
und registrirung schon unerläſslich und verdienstlich ist und bleibt. es
wäre nur wünschenswert, daſs sich nachgerade eine organisation dieser
registrirenden arbeit nach dem muster dessen ausbildete, was für Rom
erzielt ist.

Aber die im engeren sinne politische geschichte kommt darüber
leicht zu kurz; Boeckh selbst hat über die wichtigsten phasen der atti-
schen verfassungsgeschichte und die bedeutendsten personen kein ent-
schiedenes noch entscheidendes urteil gesprochen. wer die kurzen
einleitungen Droysens zu seiner Aristophanesübersetzung mit der über-
reichen erklärung vergleicht, die Boeckh den Olympien und Pythien
Pindars hat angedeihen lassen, kann sich leicht überzeugen, wo der
mann mit wirklich politischem blicke redet. der geschichtsschreiber
Alexanders und der preuſsischen politik hatte für das attische Reich
freilich in ganz anderer art das innere verständnis, das ihm die
anteilnahme an dem staatsgedanken des eigenen gemeinwesens verlieh.
obwol beträchtlich später erschienen ist die griechische geschichte von
E. Curtius dennoch gerade in dem was sie wirksam gemacht hat der
ausdruck der stimmung, mit dem das vormärzliche Deutschland die grie-
chische geschichte ansah. es ist ein werk der isokrateischen stilrichtung,
welche die geschichte unter die epideiktische beredsamkeit zählt, bestimmt
das edle zu loben, das schlechte zu tadeln, und zu dieser panegyrischen
haltung gesellt sich ein weicher oft elegischer ton, die leise trauer um
die verlorne schönheit. und da diese stimmung, der vergleichbar, wie
sie die ruinenstätten in uns wecken, ächt ist, wirklich gewonnen auf dem
alten boden, dessen durchforschung ernstlich in angriff genommen zu
haben das höhere verdienst des verfassers ist, da ferner die stilistischen
mittel bedeutende sind, so daſs der leser, der überhaupt diesen ton ver-
trägt (und hoffentlich ist das jeder jüngling) nicht müde wird, so hat
das werk sehr stark auf die vorstellungen eingewirkt, die in Deutsch-
land und weit darüber hinaus von der hellenischen geschichte herrschen;
wo denn freilich die mittlerweile selbst sehr stark von politischen leiden-

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[377/0391] Wege und ziele der griechischen historie. gedicht oder eine inschrift oder ein gewichtstück sein, und erstrebte ihre volle lösung: die erschöpfung des geschichtlichen inhaltes. Griechenland ward frei; der alte boden selbst begann jene belehrung zu geben, die Italien stets wenigstens den Italienern geboten hatte, und seinem schoſse entstiegen und entsteigen noch immer reichlicher die zeugnisse in so verwirrender menge, in so blendender frische und um so viel reicher an problemen denn an lösungen, daſs die arbeit nicht nur in der weise Boeckhs, sondern selbst die ganz gedankenlose sammlung und registrirung schon unerläſslich und verdienstlich ist und bleibt. es wäre nur wünschenswert, daſs sich nachgerade eine organisation dieser registrirenden arbeit nach dem muster dessen ausbildete, was für Rom erzielt ist. Aber die im engeren sinne politische geschichte kommt darüber leicht zu kurz; Boeckh selbst hat über die wichtigsten phasen der atti- schen verfassungsgeschichte und die bedeutendsten personen kein ent- schiedenes noch entscheidendes urteil gesprochen. wer die kurzen einleitungen Droysens zu seiner Aristophanesübersetzung mit der über- reichen erklärung vergleicht, die Boeckh den Olympien und Pythien Pindars hat angedeihen lassen, kann sich leicht überzeugen, wo der mann mit wirklich politischem blicke redet. der geschichtsschreiber Alexanders und der preuſsischen politik hatte für das attische Reich freilich in ganz anderer art das innere verständnis, das ihm die anteilnahme an dem staatsgedanken des eigenen gemeinwesens verlieh. obwol beträchtlich später erschienen ist die griechische geschichte von E. Curtius dennoch gerade in dem was sie wirksam gemacht hat der ausdruck der stimmung, mit dem das vormärzliche Deutschland die grie- chische geschichte ansah. es ist ein werk der isokrateischen stilrichtung, welche die geschichte unter die epideiktische beredsamkeit zählt, bestimmt das edle zu loben, das schlechte zu tadeln, und zu dieser panegyrischen haltung gesellt sich ein weicher oft elegischer ton, die leise trauer um die verlorne schönheit. und da diese stimmung, der vergleichbar, wie sie die ruinenstätten in uns wecken, ächt ist, wirklich gewonnen auf dem alten boden, dessen durchforschung ernstlich in angriff genommen zu haben das höhere verdienst des verfassers ist, da ferner die stilistischen mittel bedeutende sind, so daſs der leser, der überhaupt diesen ton ver- trägt (und hoffentlich ist das jeder jüngling) nicht müde wird, so hat das werk sehr stark auf die vorstellungen eingewirkt, die in Deutsch- land und weit darüber hinaus von der hellenischen geschichte herrschen; wo denn freilich die mittlerweile selbst sehr stark von politischen leiden-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/391>, abgerufen am 25.04.2024.