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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
Bernays zu seinem letzten büchlein anlass gegeben hat, in dem er denn
auch jener moralisirenden und tendenziösen geschichtsbetrachtung selbst
verfallen ist. erst mit Niebuhr und Boeckh beginnt die wirklich wissen-
schaftliche historie der Griechen.

Niebuhr wirkt überhaupt und namentlich hier wesentlich durch
das ethos seiner ganzen person. weil er ein ganzer mann ist, gibt er
sich willig der wirkung eines ganzen mannes hin, einem Thukydides
und Demosthenes. weil er ein guter bürger ist und ein staatsmann
dazu, erkennt er das grosse auch in dem staate der Athener, so fern er
auch selbst den demokratischen tendenzen steht, und er erhebt die forde-
rungen auch des attischen staates auf die mitarbeit seiner söhne als ein
recht des staates. so wagt er es denn mitten in der matten zeit, da
die erschlaffende romantik und die verknöchernde philosophie mit der
reaction transigirt, den Platon keinen guten, den Xenophon einen
schlechten bürger zu nennen. den staatsgedanken wirft der geschichts-
schreiber Roms in die geschichte von Hellas hinüber, die seiner über
den künsten und philosophemen, dem cultus des schönen und der idee
der freien menschlichkeit gänzlich vergessen hatte. das problem war
gestellt; aber zu seiner lösung war es noch nicht an der zeit.

Boeckh gieng an die schwere arbeit, die zunächst getan werden
musste. ein langes und reiches leben hat er ihr gewidmet, aber das
entscheidende war doch, was er bis zur akme vollbrachte oder begann.
die überlieferung bietet uns nun einmal einen unendlichen reichtum
von zügen für alle erscheinungen des lebens, aber sie bietet uns weder
einen rahmen für das gesammtbild noch feste gesichtspunkte, die züge
zu diesem zu ordnen. es fehlt eine centralisirte überlieferung, wie die
römische chronik, ein system des rechtes, es fehlen chronologie und
metrologie und was man sich sonst von sog. hilfsdisciplinen construiren
mag. mochte in diesen Boeckh zuweilen bis zur systematik fortschreiten,
zumeist hielt er sich an das, was der stand der überlieferung zunächst
forderte und allein gestattete, die in wahrheit unendlich schwierigere
aufgabe, das leben, wie es in der summe der einzelerscheinungen sich
offenbart, zu erfassen, eine maschine in der arbeit darzustellen, deren
construction er nicht kannte und die erst aus dieser darstellung er-
schlossen werden sollte. Staatshaushaltung der Athener hat er mit
recht sein buch über den staat der Athener genannt, und die preisfrage
nach dem attischen rechte formulirte er richtig als die frage nach dem
attischen processe. unzählige male aber griff er die concrete aufgabe
an, die ein einzelnes zeugnis ihm stellte, mochte es nun ein pindarisches

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
Bernays zu seinem letzten büchlein anlaſs gegeben hat, in dem er denn
auch jener moralisirenden und tendenziösen geschichtsbetrachtung selbst
verfallen ist. erst mit Niebuhr und Boeckh beginnt die wirklich wissen-
schaftliche historie der Griechen.

Niebuhr wirkt überhaupt und namentlich hier wesentlich durch
das ethos seiner ganzen person. weil er ein ganzer mann ist, gibt er
sich willig der wirkung eines ganzen mannes hin, einem Thukydides
und Demosthenes. weil er ein guter bürger ist und ein staatsmann
dazu, erkennt er das groſse auch in dem staate der Athener, so fern er
auch selbst den demokratischen tendenzen steht, und er erhebt die forde-
rungen auch des attischen staates auf die mitarbeit seiner söhne als ein
recht des staates. so wagt er es denn mitten in der matten zeit, da
die erschlaffende romantik und die verknöchernde philosophie mit der
reaction transigirt, den Platon keinen guten, den Xenophon einen
schlechten bürger zu nennen. den staatsgedanken wirft der geschichts-
schreiber Roms in die geschichte von Hellas hinüber, die seiner über
den künsten und philosophemen, dem cultus des schönen und der idee
der freien menschlichkeit gänzlich vergessen hatte. das problem war
gestellt; aber zu seiner lösung war es noch nicht an der zeit.

Boeckh gieng an die schwere arbeit, die zunächst getan werden
muſste. ein langes und reiches leben hat er ihr gewidmet, aber das
entscheidende war doch, was er bis zur ἀκμή vollbrachte oder begann.
die überlieferung bietet uns nun einmal einen unendlichen reichtum
von zügen für alle erscheinungen des lebens, aber sie bietet uns weder
einen rahmen für das gesammtbild noch feste gesichtspunkte, die züge
zu diesem zu ordnen. es fehlt eine centralisirte überlieferung, wie die
römische chronik, ein system des rechtes, es fehlen chronologie und
metrologie und was man sich sonst von sog. hilfsdisciplinen construiren
mag. mochte in diesen Boeckh zuweilen bis zur systematik fortschreiten,
zumeist hielt er sich an das, was der stand der überlieferung zunächst
forderte und allein gestattete, die in wahrheit unendlich schwierigere
aufgabe, das leben, wie es in der summe der einzelerscheinungen sich
offenbart, zu erfassen, eine maschine in der arbeit darzustellen, deren
construction er nicht kannte und die erst aus dieser darstellung er-
schlossen werden sollte. Staatshaushaltung der Athener hat er mit
recht sein buch über den staat der Athener genannt, und die preisfrage
nach dem attischen rechte formulirte er richtig als die frage nach dem
attischen processe. unzählige male aber griff er die concrete aufgabe
an, die ein einzelnes zeugnis ihm stellte, mochte es nun ein pindarisches

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[376/0390] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. Bernays zu seinem letzten büchlein anlaſs gegeben hat, in dem er denn auch jener moralisirenden und tendenziösen geschichtsbetrachtung selbst verfallen ist. erst mit Niebuhr und Boeckh beginnt die wirklich wissen- schaftliche historie der Griechen. Niebuhr wirkt überhaupt und namentlich hier wesentlich durch das ethos seiner ganzen person. weil er ein ganzer mann ist, gibt er sich willig der wirkung eines ganzen mannes hin, einem Thukydides und Demosthenes. weil er ein guter bürger ist und ein staatsmann dazu, erkennt er das groſse auch in dem staate der Athener, so fern er auch selbst den demokratischen tendenzen steht, und er erhebt die forde- rungen auch des attischen staates auf die mitarbeit seiner söhne als ein recht des staates. so wagt er es denn mitten in der matten zeit, da die erschlaffende romantik und die verknöchernde philosophie mit der reaction transigirt, den Platon keinen guten, den Xenophon einen schlechten bürger zu nennen. den staatsgedanken wirft der geschichts- schreiber Roms in die geschichte von Hellas hinüber, die seiner über den künsten und philosophemen, dem cultus des schönen und der idee der freien menschlichkeit gänzlich vergessen hatte. das problem war gestellt; aber zu seiner lösung war es noch nicht an der zeit. Boeckh gieng an die schwere arbeit, die zunächst getan werden muſste. ein langes und reiches leben hat er ihr gewidmet, aber das entscheidende war doch, was er bis zur ἀκμή vollbrachte oder begann. die überlieferung bietet uns nun einmal einen unendlichen reichtum von zügen für alle erscheinungen des lebens, aber sie bietet uns weder einen rahmen für das gesammtbild noch feste gesichtspunkte, die züge zu diesem zu ordnen. es fehlt eine centralisirte überlieferung, wie die römische chronik, ein system des rechtes, es fehlen chronologie und metrologie und was man sich sonst von sog. hilfsdisciplinen construiren mag. mochte in diesen Boeckh zuweilen bis zur systematik fortschreiten, zumeist hielt er sich an das, was der stand der überlieferung zunächst forderte und allein gestattete, die in wahrheit unendlich schwierigere aufgabe, das leben, wie es in der summe der einzelerscheinungen sich offenbart, zu erfassen, eine maschine in der arbeit darzustellen, deren construction er nicht kannte und die erst aus dieser darstellung er- schlossen werden sollte. Staatshaushaltung der Athener hat er mit recht sein buch über den staat der Athener genannt, und die preisfrage nach dem attischen rechte formulirte er richtig als die frage nach dem attischen processe. unzählige male aber griff er die concrete aufgabe an, die ein einzelnes zeugnis ihm stellte, mochte es nun ein pindarisches

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/390>, abgerufen am 25.04.2024.