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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die bedeutung der politischen lehre.
das kind aus dieser ehe der völker ist das christentum geworden. fern
aus Athen dagegen dringt die unerschrockene stimme des weisen und doch
in seiner weisheit kleingläubigen, der die möglichkeit dieser vereinigung
leugnet und die überlegenheit der hellenischen race rücksichtslos wider
die barbaren und den makedonischen könig behauptet. in Athen selbst
und in ganz Hellas liegt der alpdruck auf allen vaterlandsliebenden ge-
mütern, dass die lieben alten kleinen heimatsstädte nun aufhören sollen
die welt zu bedeuten. mit doppelter wärme empfinden sie die heiligkeit
ihrer heimischen götter und sitten und einrichtungen, gedenken sie all
des grossen, das die väter mit diesen und durch diese geleistet haben.
ganz besonders aber wird in Athen die demokratie, die freiheit des
staates und des einzelnen, die stolze freiheit des wortes und des lebens
empfunden gegenüber dem makedonisch-barbarischen grossstaate mit
höfischem ceremoniell, mit uniformen, subordination und soldatenarro-
ganz, mit dem culte des allmächtigen königs. da könnte Aristoteles ein
wortführer dieser gefühle scheinen. so weit sie hellenisch sind, teilt er
sie, aber nicht so weit sie athenisch oder boeotisch oder megarisch,
demokratisch oder oligarchisch sind. und auch das führt er mit frei-
mütiger überlegenheit dem publicum vor, das die Politien zu lesen be-
kommt. die staatswesen wie sie sind bestehn die prüfung nicht, die
staatsmänner die sie geschaffen haben noch weniger, die grosse ver-
gangenheit, die nationale grösse erhält nicht einmal einen warmen nachruf.
der weise steht unbeirrt von dem fernen grolle des königs wie von dem
nahen toben der menge auf dem festen grunde seiner wissenschaftlichen
überzeugung, gross fürwahr und erhaben, aber auch kalt, vor lauter
klugheit irrend und ungerecht nach beiden seiten. man muss das auge
der phantasie mühsam zwingen, die lage der welt und der personen
für das jahr 325 genügend isolirt von der nächsten zukunft zu schauen:
denn wenige jahre später ist der grosse könig tot und mit ihm das welt-
reich, ist die athenische demokratie zertrümmert und hat Aristoteles den
hass der demokratie erfahren, für die er als antwort nur einen überlegnen
spott hatte. die grausame strafe aber, die sein freund über die stadt ver-
hängte, die trotz allem seine zweite heimat geworden war, brauchte er nicht
mehr mit anzusehen. Antipatros hatte in den tagen, da er Athen nieder-
warf und die todesurteile über Demosthenes und die andern demagogen
aussprach, das testament seines eben verstorbenen freundes Aristoteles
zu vollstrecken. in der zeitlichkeit schlossen sie einander aus, die
nationale demokratie Athens, das völkerversöhnende weltreich des Ale-
xandros und die wissenschaft des Aristoteles. für uns aber ist es ein

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Die bedeutung der politischen lehre.
das kind aus dieser ehe der völker ist das christentum geworden. fern
aus Athen dagegen dringt die unerschrockene stimme des weisen und doch
in seiner weisheit kleingläubigen, der die möglichkeit dieser vereinigung
leugnet und die überlegenheit der hellenischen race rücksichtslos wider
die barbaren und den makedonischen könig behauptet. in Athen selbst
und in ganz Hellas liegt der alpdruck auf allen vaterlandsliebenden ge-
mütern, daſs die lieben alten kleinen heimatsstädte nun aufhören sollen
die welt zu bedeuten. mit doppelter wärme empfinden sie die heiligkeit
ihrer heimischen götter und sitten und einrichtungen, gedenken sie all
des groſsen, das die väter mit diesen und durch diese geleistet haben.
ganz besonders aber wird in Athen die demokratie, die freiheit des
staates und des einzelnen, die stolze freiheit des wortes und des lebens
empfunden gegenüber dem makedonisch-barbarischen groſsstaate mit
höfischem ceremoniell, mit uniformen, subordination und soldatenarro-
ganz, mit dem culte des allmächtigen königs. da könnte Aristoteles ein
wortführer dieser gefühle scheinen. so weit sie hellenisch sind, teilt er
sie, aber nicht so weit sie athenisch oder boeotisch oder megarisch,
demokratisch oder oligarchisch sind. und auch das führt er mit frei-
mütiger überlegenheit dem publicum vor, das die Politien zu lesen be-
kommt. die staatswesen wie sie sind bestehn die prüfung nicht, die
staatsmänner die sie geschaffen haben noch weniger, die groſse ver-
gangenheit, die nationale gröſse erhält nicht einmal einen warmen nachruf.
der weise steht unbeirrt von dem fernen grolle des königs wie von dem
nahen toben der menge auf dem festen grunde seiner wissenschaftlichen
überzeugung, groſs fürwahr und erhaben, aber auch kalt, vor lauter
klugheit irrend und ungerecht nach beiden seiten. man muſs das auge
der phantasie mühsam zwingen, die lage der welt und der personen
für das jahr 325 genügend isolirt von der nächsten zukunft zu schauen:
denn wenige jahre später ist der groſse könig tot und mit ihm das welt-
reich, ist die athenische demokratie zertrümmert und hat Aristoteles den
haſs der demokratie erfahren, für die er als antwort nur einen überlegnen
spott hatte. die grausame strafe aber, die sein freund über die stadt ver-
hängte, die trotz allem seine zweite heimat geworden war, brauchte er nicht
mehr mit anzusehen. Antipatros hatte in den tagen, da er Athen nieder-
warf und die todesurteile über Demosthenes und die andern demagogen
aussprach, das testament seines eben verstorbenen freundes Aristoteles
zu vollstrecken. in der zeitlichkeit schlossen sie einander aus, die
nationale demokratie Athens, das völkerversöhnende weltreich des Ale-
xandros und die wissenschaft des Aristoteles. für uns aber ist es ein

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[371/0385] Die bedeutung der politischen lehre. das kind aus dieser ehe der völker ist das christentum geworden. fern aus Athen dagegen dringt die unerschrockene stimme des weisen und doch in seiner weisheit kleingläubigen, der die möglichkeit dieser vereinigung leugnet und die überlegenheit der hellenischen race rücksichtslos wider die barbaren und den makedonischen könig behauptet. in Athen selbst und in ganz Hellas liegt der alpdruck auf allen vaterlandsliebenden ge- mütern, daſs die lieben alten kleinen heimatsstädte nun aufhören sollen die welt zu bedeuten. mit doppelter wärme empfinden sie die heiligkeit ihrer heimischen götter und sitten und einrichtungen, gedenken sie all des groſsen, das die väter mit diesen und durch diese geleistet haben. ganz besonders aber wird in Athen die demokratie, die freiheit des staates und des einzelnen, die stolze freiheit des wortes und des lebens empfunden gegenüber dem makedonisch-barbarischen groſsstaate mit höfischem ceremoniell, mit uniformen, subordination und soldatenarro- ganz, mit dem culte des allmächtigen königs. da könnte Aristoteles ein wortführer dieser gefühle scheinen. so weit sie hellenisch sind, teilt er sie, aber nicht so weit sie athenisch oder boeotisch oder megarisch, demokratisch oder oligarchisch sind. und auch das führt er mit frei- mütiger überlegenheit dem publicum vor, das die Politien zu lesen be- kommt. die staatswesen wie sie sind bestehn die prüfung nicht, die staatsmänner die sie geschaffen haben noch weniger, die groſse ver- gangenheit, die nationale gröſse erhält nicht einmal einen warmen nachruf. der weise steht unbeirrt von dem fernen grolle des königs wie von dem nahen toben der menge auf dem festen grunde seiner wissenschaftlichen überzeugung, groſs fürwahr und erhaben, aber auch kalt, vor lauter klugheit irrend und ungerecht nach beiden seiten. man muſs das auge der phantasie mühsam zwingen, die lage der welt und der personen für das jahr 325 genügend isolirt von der nächsten zukunft zu schauen: denn wenige jahre später ist der groſse könig tot und mit ihm das welt- reich, ist die athenische demokratie zertrümmert und hat Aristoteles den haſs der demokratie erfahren, für die er als antwort nur einen überlegnen spott hatte. die grausame strafe aber, die sein freund über die stadt ver- hängte, die trotz allem seine zweite heimat geworden war, brauchte er nicht mehr mit anzusehen. Antipatros hatte in den tagen, da er Athen nieder- warf und die todesurteile über Demosthenes und die andern demagogen aussprach, das testament seines eben verstorbenen freundes Aristoteles zu vollstrecken. in der zeitlichkeit schlossen sie einander aus, die nationale demokratie Athens, das völkerversöhnende weltreich des Ale- xandros und die wissenschaft des Aristoteles. für uns aber ist es ein 24*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/385>, abgerufen am 24.04.2024.