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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
diese, übrigens wenig ermutigenden, erfahrungen, sondern die in der
Akademie und im Lykeion gewesen, welche er statt der mangelnden
wirklich politischen erfahrung befolgt hat.59)

Er war kein rhetor, aber sehr empfänglich für die künste der
rhetoren, er verachtete die taschenspielerkünste der eristiker nicht, son-
dern er überwand sie nur: so war er zwar kein staatsmann, aber es
imponirte ihm doch die praktische geschicklichkeit der staatsmänner, auch
wenn sie die hohen ziele seiner lebensanschauung nicht verstanden oder
nicht anstrebten. und so wird der staatsmann seiner Politik etwas sehr
verschiedenes von dem königlichen herrscher, den seine übermenschliche
weisheit und güte über das gesetz erhebt, wie ihn der platonische dialog
des namens darstellt, an dem sich wol ein Alexandros begeistern konnte.
er ist auch nicht ein staatsmann, wie wir ihn in Kleisthenes und Ari-
steides bewundern und selbst in Kleon und Eubulos anerkennen müssen,
das werkzeug oder der werkmeister, wie man das ansehen will, für ein
bestimmtes und notwendiges stück in der geschichte seines volkes: er
hat keine mission zu erfüllen, sondern er besitzt und übt eine kunst,
die politike tekhne. er ist der virtuose, der diese virtu besitzt, und er-
innert allerdings an die zöglinge der sophistik oder der renaissance.
so hat denn Aristoteles selbst freude an den kunststücken der politik,
wie er sie von Themistokles erzählt, ohne rücksicht auf ihre sittliche
berechtigung, und da es ihm auf das exempel allein ankommt, auch ohne
prüfung ihrer geschichtlichen wahrheit. das ist die politik pros tous
kairous, die mit seinem materiale Theophrastos bearbeitet hat, und die
von solchen exempeln voll war. auch die zweite Oekonomik ist für die peri-
patetische Politik immerhin ein sehr belehrendes document. gerade nach
dieser seite hat der Peripatos auf die praktische politik der diadochen
stark eingewirkt: Nikanor, der schwiegersohn des Aristoteles, und Kas-
sandros, der sohn seines nächsten freundes, und Duris der tyrann von
Samos, verlangen neben Dikaiarchos und Demetrios auch ihre erwähnung.
es hilft schon nichts, wir müssen zugestehn, dass auf dem boden der ari-
stotelischen Politik eine staatskunst wachsen kann, die wir macchiavellistisch
zu nennen gewohnt sind, und es sind eben die partien des Principe, gegen

59) Ich weiss wol, dass Iustus Möser geradezu den staat mit einer actien-
gesellschaft vergleicht, ein grosser und auch ein realistischer denker. aber Mösers
actie ist der kleros, das bauerngut. sie lässt sich also sehr gut griechisch be-
zeichnen, und mit dem einsetzen dieses adaequaten griechischen begriffes ist sofort
gesagt, dass wir Mösers staat in wahrheit in den zeiten der griechischen adels-
herrschaft zu suchen haben.

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
diese, übrigens wenig ermutigenden, erfahrungen, sondern die in der
Akademie und im Lykeion gewesen, welche er statt der mangelnden
wirklich politischen erfahrung befolgt hat.59)

Er war kein rhetor, aber sehr empfänglich für die künste der
rhetoren, er verachtete die taschenspielerkünste der eristiker nicht, son-
dern er überwand sie nur: so war er zwar kein staatsmann, aber es
imponirte ihm doch die praktische geschicklichkeit der staatsmänner, auch
wenn sie die hohen ziele seiner lebensanschauung nicht verstanden oder
nicht anstrebten. und so wird der staatsmann seiner Politik etwas sehr
verschiedenes von dem königlichen herrscher, den seine übermenschliche
weisheit und güte über das gesetz erhebt, wie ihn der platonische dialog
des namens darstellt, an dem sich wol ein Alexandros begeistern konnte.
er ist auch nicht ein staatsmann, wie wir ihn in Kleisthenes und Ari-
steides bewundern und selbst in Kleon und Eubulos anerkennen müssen,
das werkzeug oder der werkmeister, wie man das ansehen will, für ein
bestimmtes und notwendiges stück in der geschichte seines volkes: er
hat keine mission zu erfüllen, sondern er besitzt und übt eine kunst,
die πολιτικὴ τέχνη. er ist der virtuose, der diese virtù besitzt, und er-
innert allerdings an die zöglinge der sophistik oder der renaissance.
so hat denn Aristoteles selbst freude an den kunststücken der politik,
wie er sie von Themistokles erzählt, ohne rücksicht auf ihre sittliche
berechtigung, und da es ihm auf das exempel allein ankommt, auch ohne
prüfung ihrer geschichtlichen wahrheit. das ist die politik πϱὸς τοὺς
καιϱούς, die mit seinem materiale Theophrastos bearbeitet hat, und die
von solchen exempeln voll war. auch die zweite Oekonomik ist für die peri-
patetische Politik immerhin ein sehr belehrendes document. gerade nach
dieser seite hat der Peripatos auf die praktische politik der diadochen
stark eingewirkt: Nikanor, der schwiegersohn des Aristoteles, und Kas-
sandros, der sohn seines nächsten freundes, und Duris der tyrann von
Samos, verlangen neben Dikaiarchos und Demetrios auch ihre erwähnung.
es hilft schon nichts, wir müssen zugestehn, daſs auf dem boden der ari-
stotelischen Politik eine staatskunst wachsen kann, die wir macchiavellistisch
zu nennen gewohnt sind, und es sind eben die partien des Principe, gegen

59) Ich weiſs wol, daſs Iustus Möser geradezu den staat mit einer actien-
gesellschaft vergleicht, ein groſser und auch ein realistischer denker. aber Mösers
actie ist der κλῆϱος, das bauerngut. sie läſst sich also sehr gut griechisch be-
zeichnen, und mit dem einsetzen dieses adaequaten griechischen begriffes ist sofort
gesagt, daſs wir Mösers staat in wahrheit in den zeiten der griechischen adels-
herrschaft zu suchen haben.
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[368/0382] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. diese, übrigens wenig ermutigenden, erfahrungen, sondern die in der Akademie und im Lykeion gewesen, welche er statt der mangelnden wirklich politischen erfahrung befolgt hat. 59) Er war kein rhetor, aber sehr empfänglich für die künste der rhetoren, er verachtete die taschenspielerkünste der eristiker nicht, son- dern er überwand sie nur: so war er zwar kein staatsmann, aber es imponirte ihm doch die praktische geschicklichkeit der staatsmänner, auch wenn sie die hohen ziele seiner lebensanschauung nicht verstanden oder nicht anstrebten. und so wird der staatsmann seiner Politik etwas sehr verschiedenes von dem königlichen herrscher, den seine übermenschliche weisheit und güte über das gesetz erhebt, wie ihn der platonische dialog des namens darstellt, an dem sich wol ein Alexandros begeistern konnte. er ist auch nicht ein staatsmann, wie wir ihn in Kleisthenes und Ari- steides bewundern und selbst in Kleon und Eubulos anerkennen müssen, das werkzeug oder der werkmeister, wie man das ansehen will, für ein bestimmtes und notwendiges stück in der geschichte seines volkes: er hat keine mission zu erfüllen, sondern er besitzt und übt eine kunst, die πολιτικὴ τέχνη. er ist der virtuose, der diese virtù besitzt, und er- innert allerdings an die zöglinge der sophistik oder der renaissance. so hat denn Aristoteles selbst freude an den kunststücken der politik, wie er sie von Themistokles erzählt, ohne rücksicht auf ihre sittliche berechtigung, und da es ihm auf das exempel allein ankommt, auch ohne prüfung ihrer geschichtlichen wahrheit. das ist die politik πϱὸς τοὺς καιϱούς, die mit seinem materiale Theophrastos bearbeitet hat, und die von solchen exempeln voll war. auch die zweite Oekonomik ist für die peri- patetische Politik immerhin ein sehr belehrendes document. gerade nach dieser seite hat der Peripatos auf die praktische politik der diadochen stark eingewirkt: Nikanor, der schwiegersohn des Aristoteles, und Kas- sandros, der sohn seines nächsten freundes, und Duris der tyrann von Samos, verlangen neben Dikaiarchos und Demetrios auch ihre erwähnung. es hilft schon nichts, wir müssen zugestehn, daſs auf dem boden der ari- stotelischen Politik eine staatskunst wachsen kann, die wir macchiavellistisch zu nennen gewohnt sind, und es sind eben die partien des Principe, gegen 59) Ich weiſs wol, daſs Iustus Möser geradezu den staat mit einer actien- gesellschaft vergleicht, ein groſser und auch ein realistischer denker. aber Mösers actie ist der κλῆϱος, das bauerngut. sie läſst sich also sehr gut griechisch be- zeichnen, und mit dem einsetzen dieses adaequaten griechischen begriffes ist sofort gesagt, daſs wir Mösers staat in wahrheit in den zeiten der griechischen adels- herrschaft zu suchen haben.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/382>, abgerufen am 28.03.2024.