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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
richtigen mischung oligarchischer und demokratischer institutionen reden.
diese boten ihm die Politien in reichster fülle, aber der untergrund aller
seiner speculationen ist und bleibt doch der staat, in dem er lebt, der
das reichste leben und die meisten verfassungsänderungen durchgemacht
hat, Athen.

Die wirtschaftliche freiheit des bürgers und seines eigentumes ist
überall vorausgesetzt. nirgend wird der versuch gemacht, den grund-
besitz zu binden oder zu beschränken, noch auch das bürgerrecht auf
ihm aufzubauen. Athen war eben kein bauernstaat mehr, und Aristo-
teles rechnete praktisch nicht mehr mit der bauernrepublik, er preist
Solon als den befreier der hörigen und zerstörer des grossgrundbesitzes,
er verwirft jede beschränkung der freien vererbung. 58) er preist ihn auch
als den vertreter des mittelstandes; dieser aber ist für ihn durch den besitz
gebildet, die mitte zwischen arm und reich; da das schon bei Euripides
steht, war es ein altsophistisches schlagwort. welcher art der besitz aber
ist, darauf lässt er sich nicht viel ein: die leute sollen doch im wesent-
lichen von ihren zinsen leben können. die banausoi, die körperliche
arbeit tun, um zu leben, schliesst er von dem staate prinzipiell aus, ob-
wol er in praxi wie über alles auch über ihre abgrenzung mit sich
reden lässt. was er hier will, ist die forderung der attischen oligarchen.
denn einen eigentlichen census wollten sie so wenig wie er, und wer
bürger ist hat nach beiden das recht oder vielmehr die pflicht sich am
staatsleben zu beteiligen. darin liegt, dass eigentlich keinerlei sold ge-
zahlt werden kann. auch da wird er billig sein; unerfreuliche ämter,
wie die der executoren und gefängnisausseher, wird er durch sold an-
nehmlich machen, vielleicht auch unbemittelten bürgern, die er doch als
solche halten und heranziehen wird, diaeten bewilligen, andererseits die
beteiligung der höheren stände durch geldstrafen erzwingen (was er von
den 400 gelernt hat); aber das sind ausnahmen, die den eigentlichen
typus nicht verändern. seine politeia hat eine polis: darin liegt die
städtische centralisirung des lebens, wie er es kannte, eine folge der demo-
kratie. er versucht das nicht zu redressiren, obwol er die tyrannen lobt,

58) Charakteristisch ist dem gegenüber, dass die attische restauration den neu-
bürgern, die durch specialgesetz zahlreich geschaffen wurden, den erwerb von grund-
besitz nur in beschränktem masse noch zugestand: sie wollte also der autochthonen
bevölkerung das land erhalten; in der stadt (egktesis oikias) war die beschränkung
noch viel stärker: hier war den kleinbürgern mit ihren kümmerlichen häuschen
offenbar die concurrenz der reichen händler, die sich das bürgerrecht verschafften,
schon sehr fühlbar geworden.

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
richtigen mischung oligarchischer und demokratischer institutionen reden.
diese boten ihm die Politien in reichster fülle, aber der untergrund aller
seiner speculationen ist und bleibt doch der staat, in dem er lebt, der
das reichste leben und die meisten verfassungsänderungen durchgemacht
hat, Athen.

Die wirtschaftliche freiheit des bürgers und seines eigentumes ist
überall vorausgesetzt. nirgend wird der versuch gemacht, den grund-
besitz zu binden oder zu beschränken, noch auch das bürgerrecht auf
ihm aufzubauen. Athen war eben kein bauernstaat mehr, und Aristo-
teles rechnete praktisch nicht mehr mit der bauernrepublik, er preist
Solon als den befreier der hörigen und zerstörer des groſsgrundbesitzes,
er verwirft jede beschränkung der freien vererbung. 58) er preist ihn auch
als den vertreter des mittelstandes; dieser aber ist für ihn durch den besitz
gebildet, die mitte zwischen arm und reich; da das schon bei Euripides
steht, war es ein altsophistisches schlagwort. welcher art der besitz aber
ist, darauf läſst er sich nicht viel ein: die leute sollen doch im wesent-
lichen von ihren zinsen leben können. die βάναυσοι, die körperliche
arbeit tun, um zu leben, schlieſst er von dem staate prinzipiell aus, ob-
wol er in praxi wie über alles auch über ihre abgrenzung mit sich
reden läſst. was er hier will, ist die forderung der attischen oligarchen.
denn einen eigentlichen census wollten sie so wenig wie er, und wer
bürger ist hat nach beiden das recht oder vielmehr die pflicht sich am
staatsleben zu beteiligen. darin liegt, daſs eigentlich keinerlei sold ge-
zahlt werden kann. auch da wird er billig sein; unerfreuliche ämter,
wie die der executoren und gefängnisauſseher, wird er durch sold an-
nehmlich machen, vielleicht auch unbemittelten bürgern, die er doch als
solche halten und heranziehen wird, diaeten bewilligen, andererseits die
beteiligung der höheren stände durch geldstrafen erzwingen (was er von
den 400 gelernt hat); aber das sind ausnahmen, die den eigentlichen
typus nicht verändern. seine πολιτεία hat eine πόλις: darin liegt die
städtische centralisirung des lebens, wie er es kannte, eine folge der demo-
kratie. er versucht das nicht zu redressiren, obwol er die tyrannen lobt,

58) Charakteristisch ist dem gegenüber, daſs die attische restauration den neu-
bürgern, die durch specialgesetz zahlreich geschaffen wurden, den erwerb von grund-
besitz nur in beschränktem maſse noch zugestand: sie wollte also der autochthonen
bevölkerung das land erhalten; in der stadt (ἔγκτησις οἰκίας) war die beschränkung
noch viel stärker: hier war den kleinbürgern mit ihren kümmerlichen häuschen
offenbar die concurrenz der reichen händler, die sich das bürgerrecht verschafften,
schon sehr fühlbar geworden.
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[364/0378] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. richtigen mischung oligarchischer und demokratischer institutionen reden. diese boten ihm die Politien in reichster fülle, aber der untergrund aller seiner speculationen ist und bleibt doch der staat, in dem er lebt, der das reichste leben und die meisten verfassungsänderungen durchgemacht hat, Athen. Die wirtschaftliche freiheit des bürgers und seines eigentumes ist überall vorausgesetzt. nirgend wird der versuch gemacht, den grund- besitz zu binden oder zu beschränken, noch auch das bürgerrecht auf ihm aufzubauen. Athen war eben kein bauernstaat mehr, und Aristo- teles rechnete praktisch nicht mehr mit der bauernrepublik, er preist Solon als den befreier der hörigen und zerstörer des groſsgrundbesitzes, er verwirft jede beschränkung der freien vererbung. 58) er preist ihn auch als den vertreter des mittelstandes; dieser aber ist für ihn durch den besitz gebildet, die mitte zwischen arm und reich; da das schon bei Euripides steht, war es ein altsophistisches schlagwort. welcher art der besitz aber ist, darauf läſst er sich nicht viel ein: die leute sollen doch im wesent- lichen von ihren zinsen leben können. die βάναυσοι, die körperliche arbeit tun, um zu leben, schlieſst er von dem staate prinzipiell aus, ob- wol er in praxi wie über alles auch über ihre abgrenzung mit sich reden läſst. was er hier will, ist die forderung der attischen oligarchen. denn einen eigentlichen census wollten sie so wenig wie er, und wer bürger ist hat nach beiden das recht oder vielmehr die pflicht sich am staatsleben zu beteiligen. darin liegt, daſs eigentlich keinerlei sold ge- zahlt werden kann. auch da wird er billig sein; unerfreuliche ämter, wie die der executoren und gefängnisauſseher, wird er durch sold an- nehmlich machen, vielleicht auch unbemittelten bürgern, die er doch als solche halten und heranziehen wird, diaeten bewilligen, andererseits die beteiligung der höheren stände durch geldstrafen erzwingen (was er von den 400 gelernt hat); aber das sind ausnahmen, die den eigentlichen typus nicht verändern. seine πολιτεία hat eine πόλις: darin liegt die städtische centralisirung des lebens, wie er es kannte, eine folge der demo- kratie. er versucht das nicht zu redressiren, obwol er die tyrannen lobt, 58) Charakteristisch ist dem gegenüber, daſs die attische restauration den neu- bürgern, die durch specialgesetz zahlreich geschaffen wurden, den erwerb von grund- besitz nur in beschränktem maſse noch zugestand: sie wollte also der autochthonen bevölkerung das land erhalten; in der stadt (ἔγκτησις οἰκίας) war die beschränkung noch viel stärker: hier war den kleinbürgern mit ihren kümmerlichen häuschen offenbar die concurrenz der reichen händler, die sich das bürgerrecht verschafften, schon sehr fühlbar geworden.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/378>, abgerufen am 19.04.2024.