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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Praktische wirkungen. Die politeia des Aristoteles.
und der staat ist nicht einmal in stande Delos zu behaupten, aber er soll ja
keine macht ausser landes mehr anstreben, und im innern herrscht ord-
nung, frieden und wolstand. so über Athen zu herrschen hat Demetrios
bei Aristoteles gelernt: er ist der nomothetikos aner, den die Politik
erzogen hat. gerade an Athen hat sie ihre praktische probe bestanden.
wüssten wir nur mehr über die verfassung und verwaltung des Deme-
trios, so würden wir das noch im einzelnen verfolgen können, aber für
jeden, der nicht durch phrasen geblendet ist oder auf ein modernes
politisches credo eingeschworen, gibt die würdelosigkeit des volkes und
seiner demagogen, die vor den füssen des Demetrios Poliorketes hündisch
schwänzeln, der schmutz mit dem der elende Demochares das gedächtnis
des Platon und Aristoteles bewirft und das elend der neunziger jahre
eine folie ab, dunkel genug, dass sich auch bei dem trüben lichte
unserer überlieferung die segensreiche verwaltung des Demetrios deut-
lich abhebt.

Wenn wir nun Politien und Politik zusammenhalten, wie sie zuDie
politeia
des
Aristoteles.

einander gehören und im ganzen gleichzeitig verfasst sind 57), so wird das
urteil ohne zweifel dadurch etwas einseitig ausfallen, dass wir ja nur
das erste buch der Politien lesen. allein Athen ist und bleibt doch die
hauptsache. gewiss hat sich Aristoteles ein sehr grosses verdienst dadurch er-
worben, dass er die spartanische legende, die auf Platon und Xenophon
eine so starke macht ausgeübt hatte, mitleidslos zerstört hat, das sehen
wir auch noch genügend in der Politik. aber davon war der ertrag, dass
die politische theorie begriff, von Sparta positiv so gut wie nichts lernen
zu können. Athen dagegen hat dem Aristoteles unbewusst fast immer vor-
geschwebt, keinesweges bloss, wo er von der eskhate demokratia redet.
der staat, den er im auge hat, wenn wir von dem seines wunsches ab-
sehen, ist der nach seinem urteil über die geschichte und die verfassung
Athens umgeformte athenische. königtum und aristokratie figuriren
nur noch gleichsam als überschriften, weil das überlieferte system sie
fordert: das buch der welt hat diese capitel verloren. oligarchie und
demokratie sind die einzigen tatsächlich noch vorkommenden gattungen
(von der schlechthin verwerflichen und niemals dauernden tyrannis ab-
gesehen), die politeia ist die rechte mitte zwischen ihnen. so passt es
zumal dem ethiker, der auch darin die alte volksmoral codificirt, panti
meso to kratos theos opasen. in diesem sinne kann er auch von einer

57) Ob in der angabe der vita (431. 440. 449 R.), dass die Politien in Alexanders
zeit fielen, gute überlieferung steckt, ist nicht sicher zu sagen, da fabelhaftes ein-
gemischt ist. wir brauchen auch kein äusseres zeugnis mehr.

Praktische wirkungen. Die πολιτεία des Aristoteles.
und der staat ist nicht einmal in stande Delos zu behaupten, aber er soll ja
keine macht auſser landes mehr anstreben, und im innern herrscht ord-
nung, frieden und wolstand. so über Athen zu herrschen hat Demetrios
bei Aristoteles gelernt: er ist der νομοϑετικὸς ἀνήϱ, den die Politik
erzogen hat. gerade an Athen hat sie ihre praktische probe bestanden.
wüſsten wir nur mehr über die verfassung und verwaltung des Deme-
trios, so würden wir das noch im einzelnen verfolgen können, aber für
jeden, der nicht durch phrasen geblendet ist oder auf ein modernes
politisches credo eingeschworen, gibt die würdelosigkeit des volkes und
seiner demagogen, die vor den füſsen des Demetrios Poliorketes hündisch
schwänzeln, der schmutz mit dem der elende Demochares das gedächtnis
des Platon und Aristoteles bewirft und das elend der neunziger jahre
eine folie ab, dunkel genug, daſs sich auch bei dem trüben lichte
unserer überlieferung die segensreiche verwaltung des Demetrios deut-
lich abhebt.

Wenn wir nun Politien und Politik zusammenhalten, wie sie zuDie
πολιτεία
des
Aristoteles.

einander gehören und im ganzen gleichzeitig verfaſst sind 57), so wird das
urteil ohne zweifel dadurch etwas einseitig ausfallen, daſs wir ja nur
das erste buch der Politien lesen. allein Athen ist und bleibt doch die
hauptsache. gewiſs hat sich Aristoteles ein sehr groſses verdienst dadurch er-
worben, daſs er die spartanische legende, die auf Platon und Xenophon
eine so starke macht ausgeübt hatte, mitleidslos zerstört hat, das sehen
wir auch noch genügend in der Politik. aber davon war der ertrag, daſs
die politische theorie begriff, von Sparta positiv so gut wie nichts lernen
zu können. Athen dagegen hat dem Aristoteles unbewuſst fast immer vor-
geschwebt, keinesweges bloſs, wo er von der ἐσχάτη δημοκϱατία redet.
der staat, den er im auge hat, wenn wir von dem seines wunsches ab-
sehen, ist der nach seinem urteil über die geschichte und die verfassung
Athens umgeformte athenische. königtum und aristokratie figuriren
nur noch gleichsam als überschriften, weil das überlieferte system sie
fordert: das buch der welt hat diese capitel verloren. oligarchie und
demokratie sind die einzigen tatsächlich noch vorkommenden gattungen
(von der schlechthin verwerflichen und niemals dauernden tyrannis ab-
gesehen), die πολιτεία ist die rechte mitte zwischen ihnen. so paſst es
zumal dem ethiker, der auch darin die alte volksmoral codificirt, παντὶ
μέσῳ τὸ κϱάτος ϑεὸς ὤπασεν. in diesem sinne kann er auch von einer

57) Ob in der angabe der vita (431. 440. 449 R.), daſs die Politien in Alexanders
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gemischt ist. wir brauchen auch kein äuſseres zeugnis mehr.
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[363/0377] Praktische wirkungen. Die πολιτεία des Aristoteles. und der staat ist nicht einmal in stande Delos zu behaupten, aber er soll ja keine macht auſser landes mehr anstreben, und im innern herrscht ord- nung, frieden und wolstand. so über Athen zu herrschen hat Demetrios bei Aristoteles gelernt: er ist der νομοϑετικὸς ἀνήϱ, den die Politik erzogen hat. gerade an Athen hat sie ihre praktische probe bestanden. wüſsten wir nur mehr über die verfassung und verwaltung des Deme- trios, so würden wir das noch im einzelnen verfolgen können, aber für jeden, der nicht durch phrasen geblendet ist oder auf ein modernes politisches credo eingeschworen, gibt die würdelosigkeit des volkes und seiner demagogen, die vor den füſsen des Demetrios Poliorketes hündisch schwänzeln, der schmutz mit dem der elende Demochares das gedächtnis des Platon und Aristoteles bewirft und das elend der neunziger jahre eine folie ab, dunkel genug, daſs sich auch bei dem trüben lichte unserer überlieferung die segensreiche verwaltung des Demetrios deut- lich abhebt. Wenn wir nun Politien und Politik zusammenhalten, wie sie zu einander gehören und im ganzen gleichzeitig verfaſst sind 57), so wird das urteil ohne zweifel dadurch etwas einseitig ausfallen, daſs wir ja nur das erste buch der Politien lesen. allein Athen ist und bleibt doch die hauptsache. gewiſs hat sich Aristoteles ein sehr groſses verdienst dadurch er- worben, daſs er die spartanische legende, die auf Platon und Xenophon eine so starke macht ausgeübt hatte, mitleidslos zerstört hat, das sehen wir auch noch genügend in der Politik. aber davon war der ertrag, daſs die politische theorie begriff, von Sparta positiv so gut wie nichts lernen zu können. Athen dagegen hat dem Aristoteles unbewuſst fast immer vor- geschwebt, keinesweges bloſs, wo er von der ἐσχάτη δημοκϱατία redet. der staat, den er im auge hat, wenn wir von dem seines wunsches ab- sehen, ist der nach seinem urteil über die geschichte und die verfassung Athens umgeformte athenische. königtum und aristokratie figuriren nur noch gleichsam als überschriften, weil das überlieferte system sie fordert: das buch der welt hat diese capitel verloren. oligarchie und demokratie sind die einzigen tatsächlich noch vorkommenden gattungen (von der schlechthin verwerflichen und niemals dauernden tyrannis ab- gesehen), die πολιτεία ist die rechte mitte zwischen ihnen. so paſst es zumal dem ethiker, der auch darin die alte volksmoral codificirt, παντὶ μέσῳ τὸ κϱάτος ϑεὸς ὤπασεν. in diesem sinne kann er auch von einer Die πολιτεία des Aristoteles. 57) Ob in der angabe der vita (431. 440. 449 R.), daſs die Politien in Alexanders zeit fielen, gute überlieferung steckt, ist nicht sicher zu sagen, da fabelhaftes ein- gemischt ist. wir brauchen auch kein äuſseres zeugnis mehr.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/377>, abgerufen am 23.04.2024.