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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
aber dagegen spricht die erfahrung, die den anomalen zustand constatirt
hat, dass die politiker zwar die praxis, aber nicht die theorie verstehn.
sonst hätten sie, wie alle andern die ein metier treiben, ihre kunst
auf ihre kinder vererbt, was notorisch nicht der fall ist (die alte seit
Sokrates und den sophisten erhobene klage und anklage) und hätten
auch über sie geschrieben, was doch mehr wert wäre als ihre staats-
und processreden (hier ist ein seitenblick auf Demosthenes und die
anderen politiker der restauration unverkennbar). die sophisten dagegen
(d. i. wie Spengel gesehen hat, Isokrates) erheben zwar den anspruch,
politik lehren zu können, aber ihnen fehlt erstens die praktische er-
fahrung, die notorisch eine unerlässliche bedingung ist, zweitens unter-
schätzen sie die politik, da sie sie entweder mit der rhetorik identifi-
ciren oder gar tiefer stellen, drittens bilden sie sich ein, es wäre leicht
gesetze zu geben, man brauchte ja nur die vorhandenen zu sammeln
und die besten auszuwählen (Isokr. 15, 83): als ob nicht gerade ein
fertiges urteil bereits gebildet sein müsste, um diese auswahl treffen zu
können. die sammlungen von gesetzen und verfassungen haben ihren
wirklichen nutzen also erst für den der bereits politisches urteil besitzt.
ihre lectüre allein kann ein solches nicht gewähren, wenn sie auch wol
das verständnis der politik vorbereitet und erleichtert. so ist denn also
die aufgabe noch ungelöst, die gesetzgebung oder besser die politik
überhaupt wissenschaftlich zu untersuchen und zu lehren". zu dieser
also wendet sich Aristoteles "um so den schlussstein zu dem gebäude
der wissenschaft von den menschlichen dingen zu legen". 54)

Dies selbstzeugnis ist wol wert, dass man es sich überlege. erstens
bezeugt es die existenz der Politien als eine vorbedingung der poli-
tischen vorträge. darin liegt zwar nicht die vollendung und herausgabe
der ganzen sammlung; es werden ja auch die Gesetze daneben genannt,

54) So weit gibt der zusammenhang der gedanken eine schlechthin sichere
garantie für die ächtheit aller einzelnen sätze. wer den letzten athetirt schlägt
der ganzen deduction den kopf ab, denn Aristoteles konnte wahrlich nicht mit der
behandlung der methoden schliessen, die nicht zur gesetzgebung befähigen, diese
falschen können vielmehr nur als vorbereitung auf die richtige methode behandelt
sein. die folgenden, von mir nicht mehr paraphrasirten sätze könnten an sich
fehlen. aber wie hätte Nikomachos auf den einfall geraten können, eine disposition
der Politik an das ende der Ethik zu setzen? als bücher waren sie ja gesondert,
mochte sie Aristoteles auch in den vorlesungen einmal unmittelbar vereinigt haben.
übrigens macht es nicht viel aus; wenn auch hier allein von den sunegmenai poli-
teiai geradezu geredet wird, lässt doch auch das frühere keinen zweifel, dass eine
sammlung wirklich schon gemacht war.

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
aber dagegen spricht die erfahrung, die den anomalen zustand constatirt
hat, daſs die politiker zwar die praxis, aber nicht die theorie verstehn.
sonst hätten sie, wie alle andern die ein metier treiben, ihre kunst
auf ihre kinder vererbt, was notorisch nicht der fall ist (die alte seit
Sokrates und den sophisten erhobene klage und anklage) und hätten
auch über sie geschrieben, was doch mehr wert wäre als ihre staats-
und processreden (hier ist ein seitenblick auf Demosthenes und die
anderen politiker der restauration unverkennbar). die sophisten dagegen
(d. i. wie Spengel gesehen hat, Isokrates) erheben zwar den anspruch,
politik lehren zu können, aber ihnen fehlt erstens die praktische er-
fahrung, die notorisch eine unerläſsliche bedingung ist, zweitens unter-
schätzen sie die politik, da sie sie entweder mit der rhetorik identifi-
ciren oder gar tiefer stellen, drittens bilden sie sich ein, es wäre leicht
gesetze zu geben, man brauchte ja nur die vorhandenen zu sammeln
und die besten auszuwählen (Isokr. 15, 83): als ob nicht gerade ein
fertiges urteil bereits gebildet sein müſste, um diese auswahl treffen zu
können. die sammlungen von gesetzen und verfassungen haben ihren
wirklichen nutzen also erst für den der bereits politisches urteil besitzt.
ihre lectüre allein kann ein solches nicht gewähren, wenn sie auch wol
das verständnis der politik vorbereitet und erleichtert. so ist denn also
die aufgabe noch ungelöst, die gesetzgebung oder besser die politik
überhaupt wissenschaftlich zu untersuchen und zu lehren”. zu dieser
also wendet sich Aristoteles “um so den schluſsstein zu dem gebäude
der wissenschaft von den menschlichen dingen zu legen”. 54)

Dies selbstzeugnis ist wol wert, daſs man es sich überlege. erstens
bezeugt es die existenz der Politien als eine vorbedingung der poli-
tischen vorträge. darin liegt zwar nicht die vollendung und herausgabe
der ganzen sammlung; es werden ja auch die Gesetze daneben genannt,

54) So weit gibt der zusammenhang der gedanken eine schlechthin sichere
garantie für die ächtheit aller einzelnen sätze. wer den letzten athetirt schlägt
der ganzen deduction den kopf ab, denn Aristoteles konnte wahrlich nicht mit der
behandlung der methoden schlieſsen, die nicht zur gesetzgebung befähigen, diese
falschen können vielmehr nur als vorbereitung auf die richtige methode behandelt
sein. die folgenden, von mir nicht mehr paraphrasirten sätze könnten an sich
fehlen. aber wie hätte Nikomachos auf den einfall geraten können, eine disposition
der Politik an das ende der Ethik zu setzen? als bücher waren sie ja gesondert,
mochte sie Aristoteles auch in den vorlesungen einmal unmittelbar vereinigt haben.
übrigens macht es nicht viel aus; wenn auch hier allein von den συνηγμέναι πολι-
τεῖαι geradezu geredet wird, läſst doch auch das frühere keinen zweifel, daſs eine
sammlung wirklich schon gemacht war.
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[360/0374] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. aber dagegen spricht die erfahrung, die den anomalen zustand constatirt hat, daſs die politiker zwar die praxis, aber nicht die theorie verstehn. sonst hätten sie, wie alle andern die ein metier treiben, ihre kunst auf ihre kinder vererbt, was notorisch nicht der fall ist (die alte seit Sokrates und den sophisten erhobene klage und anklage) und hätten auch über sie geschrieben, was doch mehr wert wäre als ihre staats- und processreden (hier ist ein seitenblick auf Demosthenes und die anderen politiker der restauration unverkennbar). die sophisten dagegen (d. i. wie Spengel gesehen hat, Isokrates) erheben zwar den anspruch, politik lehren zu können, aber ihnen fehlt erstens die praktische er- fahrung, die notorisch eine unerläſsliche bedingung ist, zweitens unter- schätzen sie die politik, da sie sie entweder mit der rhetorik identifi- ciren oder gar tiefer stellen, drittens bilden sie sich ein, es wäre leicht gesetze zu geben, man brauchte ja nur die vorhandenen zu sammeln und die besten auszuwählen (Isokr. 15, 83): als ob nicht gerade ein fertiges urteil bereits gebildet sein müſste, um diese auswahl treffen zu können. die sammlungen von gesetzen und verfassungen haben ihren wirklichen nutzen also erst für den der bereits politisches urteil besitzt. ihre lectüre allein kann ein solches nicht gewähren, wenn sie auch wol das verständnis der politik vorbereitet und erleichtert. so ist denn also die aufgabe noch ungelöst, die gesetzgebung oder besser die politik überhaupt wissenschaftlich zu untersuchen und zu lehren”. zu dieser also wendet sich Aristoteles “um so den schluſsstein zu dem gebäude der wissenschaft von den menschlichen dingen zu legen”. 54) Dies selbstzeugnis ist wol wert, daſs man es sich überlege. erstens bezeugt es die existenz der Politien als eine vorbedingung der poli- tischen vorträge. darin liegt zwar nicht die vollendung und herausgabe der ganzen sammlung; es werden ja auch die Gesetze daneben genannt, 54) So weit gibt der zusammenhang der gedanken eine schlechthin sichere garantie für die ächtheit aller einzelnen sätze. wer den letzten athetirt schlägt der ganzen deduction den kopf ab, denn Aristoteles konnte wahrlich nicht mit der behandlung der methoden schlieſsen, die nicht zur gesetzgebung befähigen, diese falschen können vielmehr nur als vorbereitung auf die richtige methode behandelt sein. die folgenden, von mir nicht mehr paraphrasirten sätze könnten an sich fehlen. aber wie hätte Nikomachos auf den einfall geraten können, eine disposition der Politik an das ende der Ethik zu setzen? als bücher waren sie ja gesondert, mochte sie Aristoteles auch in den vorlesungen einmal unmittelbar vereinigt haben. übrigens macht es nicht viel aus; wenn auch hier allein von den συνηγμέναι πολι- τεῖαι geradezu geredet wird, läſst doch auch das frühere keinen zweifel, daſs eine sammlung wirklich schon gemacht war.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/374>, abgerufen am 19.04.2024.