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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
geber in an sich interessantes detail über die erziehung, was den leser
aber doch nicht darüber trösten kann, dass er von der eigentlichen
verfassung des musterstaates gar nichts erfährt. so schön diese
bücher geschrieben sind, dürften sie als ganzes doch ziemlich das
unbefriedigendste sein, was wir von ihm lesen. es ist eben eine
hässliche halbheit, diese wunschstadt. wünschen muss man mehr, mög-
lich ist auch dies nicht, ja wahrhaftig nicht wert, dass man sichs wünsche.
welche consequenz liegt darin, dass dieser staat die zahl der geburten
normiren wird, aber die ausübung unzüchtiger culte nicht zu verbieten
wagt? in wahrheit hat Aristoteles es gar nicht ernsthaft angefasst,
sich einen festen plan für eine in der phantasie einheitliche stadt
zu entwerfen. ihm fiel der an das mögliche mahnende verstand
immer wieder in den arm, wenn er zu einem kräftigen zuge ansetzen
wollte, wie ihn die consequenz der ideellen voraussetzungen forderte.
er versuchte sich hier an einer aufgabe, für die er weder seiner begabung
noch seiner methode nach geschaffen war. den versuch aber machte
er lediglich, weil Platon, der dichter, diese form für die politische spe-
culation gewählt hatte. aber schon die Gesetze selbst tun keine reine
wirkung, weil das contagium der materie ihnen anhaftet. das reich,
das Platon stiftete, durfte nicht von dieser welt sein, es war die basi-
leia tou theou. er hatte diese welt zerschlagen, der mächtige, und
baute sie prächtiger in seinem busen wieder auf. zu dem staate und
der gesellschaft wie sie war, stand er schlechthin verneinend, ohne die
illusion des Demosthenes, die reaction des Theramenes, die biedermän-
nische kurzsichtigkeit des Isokrates und Xenophon. er möchte nicht die
schwerkranke gesellschaft bestehen lassen und nur als arzt dem einzelnen

tänigen bauern leicht die nötigen ruderer ausheben könnten, sondern sagt geradezu,
dass ihre stadt die angemessenste grösse hätte, was notwendig auch dem verhält-
nisse der regierenden und untertanen gilt. so lernt man, dass er auch E 9 und
G 3 (1275b) an Herakleia denkt, wenn er als das wünschenswerteste andeutet, dass
die untertänige bevölkerung aus einer andern untergeordneten race bestehe als die
herrschenden Hellenen: das waren eben die gutmütigen ackerbautreibenden Marian-
dyner, die den Herakleoten zinsten, dorophoroi. die stadt war freilich günstig ge-
legen, ausser contact mit hellenischen übermächtigen nachbarn, selbst von Alexandros
noch so gut wie frei. die entwickelung von der megarisch-boeotischen oligarchie
zur demokratie und tyrannis hatte sie durchgemacht und für das geistige leben der
nation ansehnliche leute gestellt. aber sie war doch nur als vorposten einer über-
legenen heimischen cultur existenzfähig, selbst keine stätte für neue geistige pro-
duktion. die platonische wie die isokrateische schule hatten mit Herakleia beziehungen
unterhalten; wer dem Aristoteles seine günstige meinung erweckt hat, würde man
gern erfahren.

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
geber in an sich interessantes detail über die erziehung, was den leser
aber doch nicht darüber trösten kann, daſs er von der eigentlichen
verfassung des musterstaates gar nichts erfährt. so schön diese
bücher geschrieben sind, dürften sie als ganzes doch ziemlich das
unbefriedigendste sein, was wir von ihm lesen. es ist eben eine
häſsliche halbheit, diese wunschstadt. wünschen muſs man mehr, mög-
lich ist auch dies nicht, ja wahrhaftig nicht wert, daſs man sichs wünsche.
welche consequenz liegt darin, daſs dieser staat die zahl der geburten
normiren wird, aber die ausübung unzüchtiger culte nicht zu verbieten
wagt? in wahrheit hat Aristoteles es gar nicht ernsthaft angefaſst,
sich einen festen plan für eine in der phantasie einheitliche stadt
zu entwerfen. ihm fiel der an das mögliche mahnende verstand
immer wieder in den arm, wenn er zu einem kräftigen zuge ansetzen
wollte, wie ihn die consequenz der ideellen voraussetzungen forderte.
er versuchte sich hier an einer aufgabe, für die er weder seiner begabung
noch seiner methode nach geschaffen war. den versuch aber machte
er lediglich, weil Platon, der dichter, diese form für die politische spe-
culation gewählt hatte. aber schon die Gesetze selbst tun keine reine
wirkung, weil das contagium der materie ihnen anhaftet. das reich,
das Platon stiftete, durfte nicht von dieser welt sein, es war die βασι-
λεία τοῦ ϑεοῦ. er hatte diese welt zerschlagen, der mächtige, und
baute sie prächtiger in seinem busen wieder auf. zu dem staate und
der gesellschaft wie sie war, stand er schlechthin verneinend, ohne die
illusion des Demosthenes, die reaction des Theramenes, die biedermän-
nische kurzsichtigkeit des Isokrates und Xenophon. er möchte nicht die
schwerkranke gesellschaft bestehen lassen und nur als arzt dem einzelnen

tänigen bauern leicht die nötigen ruderer ausheben könnten, sondern sagt geradezu,
daſs ihre stadt die angemessenste gröſse hätte, was notwendig auch dem verhält-
nisse der regierenden und untertanen gilt. so lernt man, daſs er auch Η 9 und
Γ 3 (1275b) an Herakleia denkt, wenn er als das wünschenswerteste andeutet, daſs
die untertänige bevölkerung aus einer andern untergeordneten race bestehe als die
herrschenden Hellenen: das waren eben die gutmütigen ackerbautreibenden Marian-
dyner, die den Herakleoten zinsten, δωϱοφόϱοι. die stadt war freilich günstig ge-
legen, auſser contact mit hellenischen übermächtigen nachbarn, selbst von Alexandros
noch so gut wie frei. die entwickelung von der megarisch-boeotischen oligarchie
zur demokratie und tyrannis hatte sie durchgemacht und für das geistige leben der
nation ansehnliche leute gestellt. aber sie war doch nur als vorposten einer über-
legenen heimischen cultur existenzfähig, selbst keine stätte für neue geistige pro-
duktion. die platonische wie die isokrateische schule hatten mit Herakleia beziehungen
unterhalten; wer dem Aristoteles seine günstige meinung erweckt hat, würde man
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[358/0372] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. geber in an sich interessantes detail über die erziehung, was den leser aber doch nicht darüber trösten kann, daſs er von der eigentlichen verfassung des musterstaates gar nichts erfährt. so schön diese bücher geschrieben sind, dürften sie als ganzes doch ziemlich das unbefriedigendste sein, was wir von ihm lesen. es ist eben eine häſsliche halbheit, diese wunschstadt. wünschen muſs man mehr, mög- lich ist auch dies nicht, ja wahrhaftig nicht wert, daſs man sichs wünsche. welche consequenz liegt darin, daſs dieser staat die zahl der geburten normiren wird, aber die ausübung unzüchtiger culte nicht zu verbieten wagt? in wahrheit hat Aristoteles es gar nicht ernsthaft angefaſst, sich einen festen plan für eine in der phantasie einheitliche stadt zu entwerfen. ihm fiel der an das mögliche mahnende verstand immer wieder in den arm, wenn er zu einem kräftigen zuge ansetzen wollte, wie ihn die consequenz der ideellen voraussetzungen forderte. er versuchte sich hier an einer aufgabe, für die er weder seiner begabung noch seiner methode nach geschaffen war. den versuch aber machte er lediglich, weil Platon, der dichter, diese form für die politische spe- culation gewählt hatte. aber schon die Gesetze selbst tun keine reine wirkung, weil das contagium der materie ihnen anhaftet. das reich, das Platon stiftete, durfte nicht von dieser welt sein, es war die βασι- λεία τοῦ ϑεοῦ. er hatte diese welt zerschlagen, der mächtige, und baute sie prächtiger in seinem busen wieder auf. zu dem staate und der gesellschaft wie sie war, stand er schlechthin verneinend, ohne die illusion des Demosthenes, die reaction des Theramenes, die biedermän- nische kurzsichtigkeit des Isokrates und Xenophon. er möchte nicht die schwerkranke gesellschaft bestehen lassen und nur als arzt dem einzelnen 53) 53) tänigen bauern leicht die nötigen ruderer ausheben könnten, sondern sagt geradezu, daſs ihre stadt die angemessenste gröſse hätte, was notwendig auch dem verhält- nisse der regierenden und untertanen gilt. so lernt man, daſs er auch Η 9 und Γ 3 (1275b) an Herakleia denkt, wenn er als das wünschenswerteste andeutet, daſs die untertänige bevölkerung aus einer andern untergeordneten race bestehe als die herrschenden Hellenen: das waren eben die gutmütigen ackerbautreibenden Marian- dyner, die den Herakleoten zinsten, δωϱοφόϱοι. die stadt war freilich günstig ge- legen, auſser contact mit hellenischen übermächtigen nachbarn, selbst von Alexandros noch so gut wie frei. die entwickelung von der megarisch-boeotischen oligarchie zur demokratie und tyrannis hatte sie durchgemacht und für das geistige leben der nation ansehnliche leute gestellt. aber sie war doch nur als vorposten einer über- legenen heimischen cultur existenzfähig, selbst keine stätte für neue geistige pro- duktion. die platonische wie die isokrateische schule hatten mit Herakleia beziehungen unterhalten; wer dem Aristoteles seine günstige meinung erweckt hat, würde man gern erfahren.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/372>, abgerufen am 25.04.2024.