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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
macht worden. insbesondere Demosthenes ist seit 338 ein stummer
mann; eine macht für sich, tief verflochten in alle unterirdische arbeit
wider Makedonien, aber weder in der magistratur noch publicistisch
tätig. 47) die regierung sammelte die materiellen kräfte Athens natürlich
in der hoffnung, sie zur zurückeroberung der verlorenen macht der-
einst zu verwenden. sie füllte die arsenale und brachte die flotte auf
eine höhe, wie sie seit den zeiten des Reiches nie erhört gewesen war.
Persiens sturz und das fehlen einer ebenbürtigen makedonischen see-
macht musste allerdings den gedanken wecken, mit den ionischen städten
und dem Pontos, dessen südküste auch noch nicht makedonisch war, die
alten beziehungen aufzunehmen. ein Miltiades fährt gar in ein fernes
meer zur gründung einer colonie. auf die vergangenheit war der blick
gerichtet, auf eine fernere noch als die zeit des Perikles, mit der die im-
ponirende bautätigkeit und die organisation der tempelschätze wetteiferte.
die restauration war eine religiöse: unsere urkunden über attische heilig-
tümer und feste pflegen entweder aus der zeit des Perikles oder der
des Lykurgos zu stammen. die göttinnen von Eleusis, der neu erworbene
Amphiaraos von Oropos, der Dionysos der stadt, der Poseidon des hafens,
Zeus Ammon und Athena beschäftigen rat und volk. ja selbst in Do-
dona, unter den augen der Olympias, erhebt sich ein weihgeschenk Athens
wie zu den zeiten des Tolmides. 48) auch im staatsleben sucht man gern
die alten feierlichen formen auf. wenn ein kümmerlicher lohnschreiber,
noch dazu ein fremder, wie Deinarchos, seine bombastischen brandreden
mit den obsoleten eidschwüren der archontenprüfung und den eben so
obsoleten erfordernissen für die strategie zu schmücken meint, so äfft
er selbst nur nach, was bei dem Eteobutaden Lykurgos ächt war, der
mit vorliebe streitfragen des heiligen rechtes bearbeitete. ächt freilich war
es auch da nur, insofern dem catonischen manne diese religion herzens-
sache war: im übrigen war es die religiösität der restauration, die die
schalen heiligt, weil sie den wert des kernes zu würdigen weiss, der
nun doch einmal verschwunden ist. das ist eine richtung, die wol eine
zeit lang wichtig war, aber für die Aristoteles so wenig wie Demosthe-
nes empfänglich waren: beide durchaus moderne menschen, der eine
indifferent, der andere erhaben über die alte religion. aber auch im
staate ist die umkehr zu dem alten hie und da bemerkbar, die Isokrates

47) Man kann sich kaum vorstellen, dass das plötzliche abbrechen seiner
schriftstellerei ganz freiwillig gewesen wäre. Philippos und Alexandros haben ihn
geschont: mindestens tatsächlich hat er durch sein schweigen den preis dafür gezahlt.
48) Hypereides für Euxenippos; IGA 5.

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
macht worden. insbesondere Demosthenes ist seit 338 ein stummer
mann; eine macht für sich, tief verflochten in alle unterirdische arbeit
wider Makedonien, aber weder in der magistratur noch publicistisch
tätig. 47) die regierung sammelte die materiellen kräfte Athens natürlich
in der hoffnung, sie zur zurückeroberung der verlorenen macht der-
einst zu verwenden. sie füllte die arsenale und brachte die flotte auf
eine höhe, wie sie seit den zeiten des Reiches nie erhört gewesen war.
Persiens sturz und das fehlen einer ebenbürtigen makedonischen see-
macht muſste allerdings den gedanken wecken, mit den ionischen städten
und dem Pontos, dessen südküste auch noch nicht makedonisch war, die
alten beziehungen aufzunehmen. ein Miltiades fährt gar in ein fernes
meer zur gründung einer colonie. auf die vergangenheit war der blick
gerichtet, auf eine fernere noch als die zeit des Perikles, mit der die im-
ponirende bautätigkeit und die organisation der tempelschätze wetteiferte.
die restauration war eine religiöse: unsere urkunden über attische heilig-
tümer und feste pflegen entweder aus der zeit des Perikles oder der
des Lykurgos zu stammen. die göttinnen von Eleusis, der neu erworbene
Amphiaraos von Oropos, der Dionysos der stadt, der Poseidon des hafens,
Zeus Ammon und Athena beschäftigen rat und volk. ja selbst in Do-
dona, unter den augen der Olympias, erhebt sich ein weihgeschenk Athens
wie zu den zeiten des Tolmides. 48) auch im staatsleben sucht man gern
die alten feierlichen formen auf. wenn ein kümmerlicher lohnschreiber,
noch dazu ein fremder, wie Deinarchos, seine bombastischen brandreden
mit den obsoleten eidschwüren der archontenprüfung und den eben so
obsoleten erfordernissen für die strategie zu schmücken meint, so äfft
er selbst nur nach, was bei dem Eteobutaden Lykurgos ächt war, der
mit vorliebe streitfragen des heiligen rechtes bearbeitete. ächt freilich war
es auch da nur, insofern dem catonischen manne diese religion herzens-
sache war: im übrigen war es die religiösität der restauration, die die
schalen heiligt, weil sie den wert des kernes zu würdigen weiſs, der
nun doch einmal verschwunden ist. das ist eine richtung, die wol eine
zeit lang wichtig war, aber für die Aristoteles so wenig wie Demosthe-
nes empfänglich waren: beide durchaus moderne menschen, der eine
indifferent, der andere erhaben über die alte religion. aber auch im
staate ist die umkehr zu dem alten hie und da bemerkbar, die Isokrates

47) Man kann sich kaum vorstellen, daſs das plötzliche abbrechen seiner
schriftstellerei ganz freiwillig gewesen wäre. Philippos und Alexandros haben ihn
geschont: mindestens tatsächlich hat er durch sein schweigen den preis dafür gezahlt.
48) Hypereides für Euxenippos; IGA 5.
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[352/0366] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. macht worden. insbesondere Demosthenes ist seit 338 ein stummer mann; eine macht für sich, tief verflochten in alle unterirdische arbeit wider Makedonien, aber weder in der magistratur noch publicistisch tätig. 47) die regierung sammelte die materiellen kräfte Athens natürlich in der hoffnung, sie zur zurückeroberung der verlorenen macht der- einst zu verwenden. sie füllte die arsenale und brachte die flotte auf eine höhe, wie sie seit den zeiten des Reiches nie erhört gewesen war. Persiens sturz und das fehlen einer ebenbürtigen makedonischen see- macht muſste allerdings den gedanken wecken, mit den ionischen städten und dem Pontos, dessen südküste auch noch nicht makedonisch war, die alten beziehungen aufzunehmen. ein Miltiades fährt gar in ein fernes meer zur gründung einer colonie. auf die vergangenheit war der blick gerichtet, auf eine fernere noch als die zeit des Perikles, mit der die im- ponirende bautätigkeit und die organisation der tempelschätze wetteiferte. die restauration war eine religiöse: unsere urkunden über attische heilig- tümer und feste pflegen entweder aus der zeit des Perikles oder der des Lykurgos zu stammen. die göttinnen von Eleusis, der neu erworbene Amphiaraos von Oropos, der Dionysos der stadt, der Poseidon des hafens, Zeus Ammon und Athena beschäftigen rat und volk. ja selbst in Do- dona, unter den augen der Olympias, erhebt sich ein weihgeschenk Athens wie zu den zeiten des Tolmides. 48) auch im staatsleben sucht man gern die alten feierlichen formen auf. wenn ein kümmerlicher lohnschreiber, noch dazu ein fremder, wie Deinarchos, seine bombastischen brandreden mit den obsoleten eidschwüren der archontenprüfung und den eben so obsoleten erfordernissen für die strategie zu schmücken meint, so äfft er selbst nur nach, was bei dem Eteobutaden Lykurgos ächt war, der mit vorliebe streitfragen des heiligen rechtes bearbeitete. ächt freilich war es auch da nur, insofern dem catonischen manne diese religion herzens- sache war: im übrigen war es die religiösität der restauration, die die schalen heiligt, weil sie den wert des kernes zu würdigen weiſs, der nun doch einmal verschwunden ist. das ist eine richtung, die wol eine zeit lang wichtig war, aber für die Aristoteles so wenig wie Demosthe- nes empfänglich waren: beide durchaus moderne menschen, der eine indifferent, der andere erhaben über die alte religion. aber auch im staate ist die umkehr zu dem alten hie und da bemerkbar, die Isokrates 47) Man kann sich kaum vorstellen, daſs das plötzliche abbrechen seiner schriftstellerei ganz freiwillig gewesen wäre. Philippos und Alexandros haben ihn geschont: mindestens tatsächlich hat er durch sein schweigen den preis dafür gezahlt. 48) Hypereides für Euxenippos; IGA 5.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/366>, abgerufen am 29.03.2024.