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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Athen 370--50.
lehrt seine Rhetorik.42) er hat daneben die stimmungen seiner heimat
mitgebracht und die traditionen und urteile der platonischen schule in
sich aufgenommen. diese verschiedenen anregungen führten alle zu
dem einen ergebnis, der verurteilung des Reichsgedankens, des gross-
staates, sowol theoretisch und geschichtlich wie für die praktische politik
der gegenwart. was er sah und was er hörte musste ihn ferner zu der
verwerfung der attischen demokratie führen. hohe diaeten, um die be-
teiligung derjenigen an der über alles wichtige entscheidenden volks-
versammlung zu bewirken, die schlechterdings nichts davon verstanden
noch verstehen konnten, waren ein so schreiender widersinn. dass ihn
füglich jeder halbwegs urteilsfähige durchschauen musste; sie existirten ja
auch erst seit Agyrrhios. aber sie waren die unvermeidliche consequenz
der gleichberechtigung aller Athener und waren nur mit dieser zu be-
seitigen. das konnte vielleicht kein staatsmann Athens planen, jeden-
falls nicht laut sagen: für den philosophen und fremden war es eine
selbstverständliche forderung. das dritte war der hinweis auf die ältere
attische verfassung, von der der rat auf dem Areshügel, mochte er auch
jetzt nur noch ein gerichtshof sein, in seinem namen immer noch zeugnis
für jedermann ablegte. aber auch Isokrates erzählte von der guten alten
zeit, wo der Areopag für die guten gesetze und guten sitten gesorgt
hätte, und wenn das auch meist nur allgemeine phrasen waren: die
anregung, nach der altattischen verfassung zu forschen, lag darin. diese
untersuchung und die eigene überzeugung, dass eine einschränkung des
bürgerrechtes und ein verzicht auf die seeherrschaft und ihr instrument,
die seemacht, die vorbedingungen für das gedeihen Athens wären, führten
nun wieder beide auf die beschäftigung mit den planen und versuchen
der partei, die am ende des fünften jahrhunderts die demokratie hatte
beseitigen wollen und sich dafür eben auf die altattische verfassung
berufen hatte. die platonische schule hatte das andenken des Kritias
und des Theramenes keinesweges geächtet; das harmonirte hiermit. so
müssen wir sagen, dass Aristoteles bereits als jüngling eben in den
jahren der bildsamkeit alle die anregungen und eindrücke in sich auf-

42) Ins besondere hat er den reden des Iphikrates, die später irrtümlich unter
den werken des Lysias standen, sein augenmerk zugewandt; sie müssen ihm mehr
geliefert haben als ein par glückliche schlagworte. Iphikrates ist der feldherr und
politiker auf eigene hand, pros tous kairous, für den das vaterland, so grosse
dienste er ihm gelegentlich geleistet hat, doch erst in zweiter linie kommt, ein mann
vom schlage der Alkibiades und Charidemos, wie der zeit, so dem wesen und der
bedeutung nach zwischen ihnen stehend.

Athen 370—50.
lehrt seine Rhetorik.42) er hat daneben die stimmungen seiner heimat
mitgebracht und die traditionen und urteile der platonischen schule in
sich aufgenommen. diese verschiedenen anregungen führten alle zu
dem einen ergebnis, der verurteilung des Reichsgedankens, des groſs-
staates, sowol theoretisch und geschichtlich wie für die praktische politik
der gegenwart. was er sah und was er hörte muſste ihn ferner zu der
verwerfung der attischen demokratie führen. hohe diaeten, um die be-
teiligung derjenigen an der über alles wichtige entscheidenden volks-
versammlung zu bewirken, die schlechterdings nichts davon verstanden
noch verstehen konnten, waren ein so schreiender widersinn. daſs ihn
füglich jeder halbwegs urteilsfähige durchschauen muſste; sie existirten ja
auch erst seit Agyrrhios. aber sie waren die unvermeidliche consequenz
der gleichberechtigung aller Athener und waren nur mit dieser zu be-
seitigen. das konnte vielleicht kein staatsmann Athens planen, jeden-
falls nicht laut sagen: für den philosophen und fremden war es eine
selbstverständliche forderung. das dritte war der hinweis auf die ältere
attische verfassung, von der der rat auf dem Areshügel, mochte er auch
jetzt nur noch ein gerichtshof sein, in seinem namen immer noch zeugnis
für jedermann ablegte. aber auch Isokrates erzählte von der guten alten
zeit, wo der Areopag für die guten gesetze und guten sitten gesorgt
hätte, und wenn das auch meist nur allgemeine phrasen waren: die
anregung, nach der altattischen verfassung zu forschen, lag darin. diese
untersuchung und die eigene überzeugung, daſs eine einschränkung des
bürgerrechtes und ein verzicht auf die seeherrschaft und ihr instrument,
die seemacht, die vorbedingungen für das gedeihen Athens wären, führten
nun wieder beide auf die beschäftigung mit den planen und versuchen
der partei, die am ende des fünften jahrhunderts die demokratie hatte
beseitigen wollen und sich dafür eben auf die altattische verfassung
berufen hatte. die platonische schule hatte das andenken des Kritias
und des Theramenes keinesweges geächtet; das harmonirte hiermit. so
müssen wir sagen, daſs Aristoteles bereits als jüngling eben in den
jahren der bildsamkeit alle die anregungen und eindrücke in sich auf-

42) Ins besondere hat er den reden des Iphikrates, die später irrtümlich unter
den werken des Lysias standen, sein augenmerk zugewandt; sie müssen ihm mehr
geliefert haben als ein par glückliche schlagworte. Iphikrates ist der feldherr und
politiker auf eigene hand, πϱὸς τοὺς καιϱούς, für den das vaterland, so groſse
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[347/0361] Athen 370—50. lehrt seine Rhetorik. 42) er hat daneben die stimmungen seiner heimat mitgebracht und die traditionen und urteile der platonischen schule in sich aufgenommen. diese verschiedenen anregungen führten alle zu dem einen ergebnis, der verurteilung des Reichsgedankens, des groſs- staates, sowol theoretisch und geschichtlich wie für die praktische politik der gegenwart. was er sah und was er hörte muſste ihn ferner zu der verwerfung der attischen demokratie führen. hohe diaeten, um die be- teiligung derjenigen an der über alles wichtige entscheidenden volks- versammlung zu bewirken, die schlechterdings nichts davon verstanden noch verstehen konnten, waren ein so schreiender widersinn. daſs ihn füglich jeder halbwegs urteilsfähige durchschauen muſste; sie existirten ja auch erst seit Agyrrhios. aber sie waren die unvermeidliche consequenz der gleichberechtigung aller Athener und waren nur mit dieser zu be- seitigen. das konnte vielleicht kein staatsmann Athens planen, jeden- falls nicht laut sagen: für den philosophen und fremden war es eine selbstverständliche forderung. das dritte war der hinweis auf die ältere attische verfassung, von der der rat auf dem Areshügel, mochte er auch jetzt nur noch ein gerichtshof sein, in seinem namen immer noch zeugnis für jedermann ablegte. aber auch Isokrates erzählte von der guten alten zeit, wo der Areopag für die guten gesetze und guten sitten gesorgt hätte, und wenn das auch meist nur allgemeine phrasen waren: die anregung, nach der altattischen verfassung zu forschen, lag darin. diese untersuchung und die eigene überzeugung, daſs eine einschränkung des bürgerrechtes und ein verzicht auf die seeherrschaft und ihr instrument, die seemacht, die vorbedingungen für das gedeihen Athens wären, führten nun wieder beide auf die beschäftigung mit den planen und versuchen der partei, die am ende des fünften jahrhunderts die demokratie hatte beseitigen wollen und sich dafür eben auf die altattische verfassung berufen hatte. die platonische schule hatte das andenken des Kritias und des Theramenes keinesweges geächtet; das harmonirte hiermit. so müssen wir sagen, daſs Aristoteles bereits als jüngling eben in den jahren der bildsamkeit alle die anregungen und eindrücke in sich auf- 42) Ins besondere hat er den reden des Iphikrates, die später irrtümlich unter den werken des Lysias standen, sein augenmerk zugewandt; sie müssen ihm mehr geliefert haben als ein par glückliche schlagworte. Iphikrates ist der feldherr und politiker auf eigene hand, πϱὸς τοὺς καιϱούς, für den das vaterland, so groſse dienste er ihm gelegentlich geleistet hat, doch erst in zweiter linie kommt, ein mann vom schlage der Alkibiades und Charidemos, wie der zeit, so dem wesen und der bedeutung nach zwischen ihnen stehend.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/361>, abgerufen am 25.04.2024.