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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Athen 370--50.
Eubulos an der spitze, verfügten über das ehrliche streben, landwirt-
schaft, industrie und handel trotz der krisis zu erhalten und die finanzen
zu reorganisiren, was ihnen auch gelungen ist. es fehlte ihnen nicht
an der einsicht, dass dazu eine zurückhaltende politik nötig wäre: ver-
gebens versuchten es die radikalen, Athen für die demokraten von Rhodos,
für Megalopolis oder Phokis zu engagiren. sie sahen auch ein, dass
der herkömmliche schlendrian in der verwaltung des schatzes und der
steuern abgestellt werden müsste, was den radikalen ein eingriff in
das heilige recht der demokratie schien, das zen os tis bouletai.
aber so sehr wir anerkennen müssen, dass diese zeit die arsenale gebaut
und gefüllt hat, die schiffe armirt und die schätze gesammelt, mit denen
Demosthenes krieg geführt hat, und dass sie auch dem Lykurgos für
seine bautätigkeit vorgearbeitet hat: eine halbheit war diese politik
dennoch und musste sie bleiben. der rest des bundes war für Athen viel
mehr eine last als ein vorteil, und selbst die wichtigsten auswärtigen
besitzungen, die Chersones und Samos, hätte Athen mit vorteil aufgeben
können, wenn dafür die unterhaltung der kriegsflotte überflüssig ge-
worden wäre. die tausende von talenten, die diese mit allem was dazu
gehört von 355 bis 322 verschlungen hat, sind tatsächlich doch verloren
gewesen. so besass Athen weiter nur den schatten und die aspirationen
seiner alten stellung, und die radikalen hatten nur zu oft gelegenheit,
zumal seit Philipp die küsten vor seinem reiche zu unterwerfen begann,
forderungen zu erheben, die sehr schön noch 365 gepasst hätten, jetzt
aber mit den tatsächlichen machtverhältnissen in schreiendem wider-
spruche standen. Eubulos hätte indessen gar nicht die macht gehabt,
gesetzt es wäre ihm in den sinn gekommen, die herrschaft des vom
staate beköstigten städtischen pöbels zu beseitigen: er konnte sich nur
halten, indem er dem volke die überschüsse der friedlichen politik und
der energischen finanzverwaltung als spielgelder in den allezeit begehr-
lichen rachen warf. die radikalen fanden, so weit sie wirkliche patrioten
waren wie Demosthenes, auch das schädlich und schändlich, aber sie
hüteten sich wol, daran zu rütteln. der demos herrschte und wollte
etwas davon haben; mit dem ruhme und dem einflusse draussen war es
knapp geworden, von den schönen phrasen ward er nicht satt. und die
spielgelder und löhne für ratsherrn, gerichte und volksversammlung
waren auch keinesweges bloss den wirklich mittellosen, sondern einem
guten teile von denen angenehm und fast bedürfnis, die im kriegsfalle
als hopliten hätten dienen sollen, wenn es nicht längst abgekommen
gewesen wäre, die dienstpflicht wirklich zu leisten.

Athen 370—50.
Eubulos an der spitze, verfügten über das ehrliche streben, landwirt-
schaft, industrie und handel trotz der krisis zu erhalten und die finanzen
zu reorganisiren, was ihnen auch gelungen ist. es fehlte ihnen nicht
an der einsicht, daſs dazu eine zurückhaltende politik nötig wäre: ver-
gebens versuchten es die radikalen, Athen für die demokraten von Rhodos,
für Megalopolis oder Phokis zu engagiren. sie sahen auch ein, daſs
der herkömmliche schlendrian in der verwaltung des schatzes und der
steuern abgestellt werden müſste, was den radikalen ein eingriff in
das heilige recht der demokratie schien, das ζῆν ὥς τις βούλεται.
aber so sehr wir anerkennen müssen, daſs diese zeit die arsenale gebaut
und gefüllt hat, die schiffe armirt und die schätze gesammelt, mit denen
Demosthenes krieg geführt hat, und daſs sie auch dem Lykurgos für
seine bautätigkeit vorgearbeitet hat: eine halbheit war diese politik
dennoch und muſste sie bleiben. der rest des bundes war für Athen viel
mehr eine last als ein vorteil, und selbst die wichtigsten auswärtigen
besitzungen, die Chersones und Samos, hätte Athen mit vorteil aufgeben
können, wenn dafür die unterhaltung der kriegsflotte überflüssig ge-
worden wäre. die tausende von talenten, die diese mit allem was dazu
gehört von 355 bis 322 verschlungen hat, sind tatsächlich doch verloren
gewesen. so besaſs Athen weiter nur den schatten und die aspirationen
seiner alten stellung, und die radikalen hatten nur zu oft gelegenheit,
zumal seit Philipp die küsten vor seinem reiche zu unterwerfen begann,
forderungen zu erheben, die sehr schön noch 365 gepaſst hätten, jetzt
aber mit den tatsächlichen machtverhältnissen in schreiendem wider-
spruche standen. Eubulos hätte indessen gar nicht die macht gehabt,
gesetzt es wäre ihm in den sinn gekommen, die herrschaft des vom
staate beköstigten städtischen pöbels zu beseitigen: er konnte sich nur
halten, indem er dem volke die überschüsse der friedlichen politik und
der energischen finanzverwaltung als spielgelder in den allezeit begehr-
lichen rachen warf. die radikalen fanden, so weit sie wirkliche patrioten
waren wie Demosthenes, auch das schädlich und schändlich, aber sie
hüteten sich wol, daran zu rütteln. der demos herrschte und wollte
etwas davon haben; mit dem ruhme und dem einflusse drauſsen war es
knapp geworden, von den schönen phrasen ward er nicht satt. und die
spielgelder und löhne für ratsherrn, gerichte und volksversammlung
waren auch keinesweges bloſs den wirklich mittellosen, sondern einem
guten teile von denen angenehm und fast bedürfnis, die im kriegsfalle
als hopliten hätten dienen sollen, wenn es nicht längst abgekommen
gewesen wäre, die dienstpflicht wirklich zu leisten.

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[345/0359] Athen 370—50. Eubulos an der spitze, verfügten über das ehrliche streben, landwirt- schaft, industrie und handel trotz der krisis zu erhalten und die finanzen zu reorganisiren, was ihnen auch gelungen ist. es fehlte ihnen nicht an der einsicht, daſs dazu eine zurückhaltende politik nötig wäre: ver- gebens versuchten es die radikalen, Athen für die demokraten von Rhodos, für Megalopolis oder Phokis zu engagiren. sie sahen auch ein, daſs der herkömmliche schlendrian in der verwaltung des schatzes und der steuern abgestellt werden müſste, was den radikalen ein eingriff in das heilige recht der demokratie schien, das ζῆν ὥς τις βούλεται. aber so sehr wir anerkennen müssen, daſs diese zeit die arsenale gebaut und gefüllt hat, die schiffe armirt und die schätze gesammelt, mit denen Demosthenes krieg geführt hat, und daſs sie auch dem Lykurgos für seine bautätigkeit vorgearbeitet hat: eine halbheit war diese politik dennoch und muſste sie bleiben. der rest des bundes war für Athen viel mehr eine last als ein vorteil, und selbst die wichtigsten auswärtigen besitzungen, die Chersones und Samos, hätte Athen mit vorteil aufgeben können, wenn dafür die unterhaltung der kriegsflotte überflüssig ge- worden wäre. die tausende von talenten, die diese mit allem was dazu gehört von 355 bis 322 verschlungen hat, sind tatsächlich doch verloren gewesen. so besaſs Athen weiter nur den schatten und die aspirationen seiner alten stellung, und die radikalen hatten nur zu oft gelegenheit, zumal seit Philipp die küsten vor seinem reiche zu unterwerfen begann, forderungen zu erheben, die sehr schön noch 365 gepaſst hätten, jetzt aber mit den tatsächlichen machtverhältnissen in schreiendem wider- spruche standen. Eubulos hätte indessen gar nicht die macht gehabt, gesetzt es wäre ihm in den sinn gekommen, die herrschaft des vom staate beköstigten städtischen pöbels zu beseitigen: er konnte sich nur halten, indem er dem volke die überschüsse der friedlichen politik und der energischen finanzverwaltung als spielgelder in den allezeit begehr- lichen rachen warf. die radikalen fanden, so weit sie wirkliche patrioten waren wie Demosthenes, auch das schädlich und schändlich, aber sie hüteten sich wol, daran zu rütteln. der demos herrschte und wollte etwas davon haben; mit dem ruhme und dem einflusse drauſsen war es knapp geworden, von den schönen phrasen ward er nicht satt. und die spielgelder und löhne für ratsherrn, gerichte und volksversammlung waren auch keinesweges bloſs den wirklich mittellosen, sondern einem guten teile von denen angenehm und fast bedürfnis, die im kriegsfalle als hopliten hätten dienen sollen, wenn es nicht längst abgekommen gewesen wäre, die dienstpflicht wirklich zu leisten.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/359>, abgerufen am 20.04.2024.