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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
empörung, die der tod des königs weckte, in Hellas wider Antipatros
richten, und eben deshalb auch wider Aristoteles. so kommt das rück-
sichtslose strafgericht, das Antipatros über Athen verhängte, auch für
die beurteilung des Aristoteles in betracht, obwol er es nicht mehr er-
lebt hat. beide männer haben ohne zweifel von einander gelernt; aber
fertige männer waren sie, als sie sich kennen lernten, und sie besassen
beide zu viel eigenes, als dass sie nicht geblieben wären, was sie waren,
Makedone und Hellene, staatsmann und gelehrter.

Verhältnis
zu
Philippos.
König Philippos hatte zu viel zu tun, um sich dem hofmeister
seines sohnes nähern zu können. die ungezügelte sinnlichkeit, der
er im gegensatze zu Antipatros fröhnte, die lärmende und zum teil
wirklich schlechte gesellschaft, in der er sich wol fühlte, und die Theo-
pompos trotz aller bewunderung des königs gebrandmarkt hat, die
soldatische natur des Makedonen überhaupt konnte den Aristoteles nur
abstossen. trotz aller väterlichen sorge für den sohn wusste der vater
auch zu diesem kein verhältnis zu gewinnen, weil er dessen mutter in
ihren frauenrechten kränkte. die schuld war vielleicht mehr auf der
seite der herrschsüchtigen und adelsstolzen frau aus dem stamme des
Achilleus, und sicherlich hat Alexandros noch mehr als kronprinzen
überhaupt und selbst als geniale kronprinzen dürfen die pietät ver-
letzt. aber in solcher nähe, wie der erzieher sie sieht, gesehen zerstören
diese familienverhältnisse nur zu leicht die achtung vor den hochgestellten
personen, zumal wenn keine eingebornen loyalitätsgefühle mitsprechen.
so hat denn tatsächlich Aristoteles von dem makedonischen hofe nur eine
anzahl hässlicher anekdoten mitgebracht. der staat Makedonien ist ihm
vielleicht ganz fremd geblieben; wenigstens sein politisches urteil trägt
keine spuren davon, dass er das wesen einer feudalmonarchie oder auch
nur die organisation des land- und hofadels, der garde, des cadetten-
corps u. dgl. beachtet hätte, so viel er im grossen und kleinen davon
hätte brauchen können. auch seine politisch-geschichtlichen und selbst
seine naturwissenschaftlichen werke scheinen nicht zu beweisen, dass
er seine kenntnisse durch die makedonischen jahre stark erweitert hätte.
wol aber hat er zum denken und arbeiten ohne zweifel sehr viel musse
gehabt. gerade in den jahren, wo sein zögling für tiefere studien reif
gewesen wäre, ward dieser in die kriege und die politik, zuletzt sogar
in üble palastintriguen gezogen; ob Aristoteles damals überhaupt noch
am hofe war, ist gar nicht einmal sicher. die freie arbeitszeit war jetzt
das einzig angenehme in seiner stellung; aber er war nun 48 jahre alt:
er war auch des wanderns und lernens müde, er wollte handeln, das

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
empörung, die der tod des königs weckte, in Hellas wider Antipatros
richten, und eben deshalb auch wider Aristoteles. so kommt das rück-
sichtslose strafgericht, das Antipatros über Athen verhängte, auch für
die beurteilung des Aristoteles in betracht, obwol er es nicht mehr er-
lebt hat. beide männer haben ohne zweifel von einander gelernt; aber
fertige männer waren sie, als sie sich kennen lernten, und sie besaſsen
beide zu viel eigenes, als daſs sie nicht geblieben wären, was sie waren,
Makedone und Hellene, staatsmann und gelehrter.

Verhältnis
zu
Philippos.
König Philippos hatte zu viel zu tun, um sich dem hofmeister
seines sohnes nähern zu können. die ungezügelte sinnlichkeit, der
er im gegensatze zu Antipatros fröhnte, die lärmende und zum teil
wirklich schlechte gesellschaft, in der er sich wol fühlte, und die Theo-
pompos trotz aller bewunderung des königs gebrandmarkt hat, die
soldatische natur des Makedonen überhaupt konnte den Aristoteles nur
abstoſsen. trotz aller väterlichen sorge für den sohn wuſste der vater
auch zu diesem kein verhältnis zu gewinnen, weil er dessen mutter in
ihren frauenrechten kränkte. die schuld war vielleicht mehr auf der
seite der herrschsüchtigen und adelsstolzen frau aus dem stamme des
Achilleus, und sicherlich hat Alexandros noch mehr als kronprinzen
überhaupt und selbst als geniale kronprinzen dürfen die pietät ver-
letzt. aber in solcher nähe, wie der erzieher sie sieht, gesehen zerstören
diese familienverhältnisse nur zu leicht die achtung vor den hochgestellten
personen, zumal wenn keine eingebornen loyalitätsgefühle mitsprechen.
so hat denn tatsächlich Aristoteles von dem makedonischen hofe nur eine
anzahl häſslicher anekdoten mitgebracht. der staat Makedonien ist ihm
vielleicht ganz fremd geblieben; wenigstens sein politisches urteil trägt
keine spuren davon, daſs er das wesen einer feudalmonarchie oder auch
nur die organisation des land- und hofadels, der garde, des cadetten-
corps u. dgl. beachtet hätte, so viel er im groſsen und kleinen davon
hätte brauchen können. auch seine politisch-geschichtlichen und selbst
seine naturwissenschaftlichen werke scheinen nicht zu beweisen, daſs
er seine kenntnisse durch die makedonischen jahre stark erweitert hätte.
wol aber hat er zum denken und arbeiten ohne zweifel sehr viel muſse
gehabt. gerade in den jahren, wo sein zögling für tiefere studien reif
gewesen wäre, ward dieser in die kriege und die politik, zuletzt sogar
in üble palastintriguen gezogen; ob Aristoteles damals überhaupt noch
am hofe war, ist gar nicht einmal sicher. die freie arbeitszeit war jetzt
das einzig angenehme in seiner stellung; aber er war nun 48 jahre alt:
er war auch des wanderns und lernens müde, er wollte handeln, das

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[340/0354] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. empörung, die der tod des königs weckte, in Hellas wider Antipatros richten, und eben deshalb auch wider Aristoteles. so kommt das rück- sichtslose strafgericht, das Antipatros über Athen verhängte, auch für die beurteilung des Aristoteles in betracht, obwol er es nicht mehr er- lebt hat. beide männer haben ohne zweifel von einander gelernt; aber fertige männer waren sie, als sie sich kennen lernten, und sie besaſsen beide zu viel eigenes, als daſs sie nicht geblieben wären, was sie waren, Makedone und Hellene, staatsmann und gelehrter. König Philippos hatte zu viel zu tun, um sich dem hofmeister seines sohnes nähern zu können. die ungezügelte sinnlichkeit, der er im gegensatze zu Antipatros fröhnte, die lärmende und zum teil wirklich schlechte gesellschaft, in der er sich wol fühlte, und die Theo- pompos trotz aller bewunderung des königs gebrandmarkt hat, die soldatische natur des Makedonen überhaupt konnte den Aristoteles nur abstoſsen. trotz aller väterlichen sorge für den sohn wuſste der vater auch zu diesem kein verhältnis zu gewinnen, weil er dessen mutter in ihren frauenrechten kränkte. die schuld war vielleicht mehr auf der seite der herrschsüchtigen und adelsstolzen frau aus dem stamme des Achilleus, und sicherlich hat Alexandros noch mehr als kronprinzen überhaupt und selbst als geniale kronprinzen dürfen die pietät ver- letzt. aber in solcher nähe, wie der erzieher sie sieht, gesehen zerstören diese familienverhältnisse nur zu leicht die achtung vor den hochgestellten personen, zumal wenn keine eingebornen loyalitätsgefühle mitsprechen. so hat denn tatsächlich Aristoteles von dem makedonischen hofe nur eine anzahl häſslicher anekdoten mitgebracht. der staat Makedonien ist ihm vielleicht ganz fremd geblieben; wenigstens sein politisches urteil trägt keine spuren davon, daſs er das wesen einer feudalmonarchie oder auch nur die organisation des land- und hofadels, der garde, des cadetten- corps u. dgl. beachtet hätte, so viel er im groſsen und kleinen davon hätte brauchen können. auch seine politisch-geschichtlichen und selbst seine naturwissenschaftlichen werke scheinen nicht zu beweisen, daſs er seine kenntnisse durch die makedonischen jahre stark erweitert hätte. wol aber hat er zum denken und arbeiten ohne zweifel sehr viel muſse gehabt. gerade in den jahren, wo sein zögling für tiefere studien reif gewesen wäre, ward dieser in die kriege und die politik, zuletzt sogar in üble palastintriguen gezogen; ob Aristoteles damals überhaupt noch am hofe war, ist gar nicht einmal sicher. die freie arbeitszeit war jetzt das einzig angenehme in seiner stellung; aber er war nun 48 jahre alt: er war auch des wanderns und lernens müde, er wollte handeln, das Verhältnis zu Philippos.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/354>, abgerufen am 25.04.2024.