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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 7. Die verfassung.

Diese reihe verwandter ämter wird passend beendet durch die exe-
cutivpolizei, deren organ, die elfmänner, wirklich seit Solon und länger
bestand70) und seine feste competenz hatte, die auch hier scharf be-
stimmt wird. nur ein punkt, ihr vorsitz in gewissen von einer denun-
tiation hervorgerufenen gerichtsverhandlungen, wird mit der nun schon
mehrfach bemerkten geflissentlichen bekräftigung, dass eben die elf dies
zu tun hätten, hervorgehoben, die auch hier dafür zeugnis ablegt, dass
Aristoteles eine andere behandlung des gegenstandes vor augen hat.71)

Passend folgen auf die polizei die richter, in attischem sinne also
die beamten, welche lediglich dazu erlost werden, gewisse rechtshändel
teils kurzer hand zu erledigen, vornehmlich aber sie einem geschwornen-
gerichte vorzulegen. zuerst stehn die fünf männer für das einbringen
der schleunigen klagen, die schon um die mitte des fünften jahrhunderts
geschaffen waren, als die processe der bundesgenossen den gewöhnlichen

zeit zufrieden geben. die angabe des Aristoteles zu bezweifeln, ist kein grund
vorhanden.
70) Die zahl elf zeugte von jeher genug dafür, dass diese behörde älter als
Kleisthenes war. mit den phylen ist sie erst 306 ausgeglichen (Poll. 8, 102); wie sie
bis dahin in den elf vertreten waren, ist unbekannt. übrigens ist die verhältnismässig
hohe ungerade zahl in der alten zeit aus dem nämlichen grunde gewählt wie die der
51 epheten: die elf sollen als magistratscollegium richten und ein urteil durch mehr-
heit finden. es ist denaturirung, wenn sie ein volksgericht berufen, und ich möchte
nicht versichern, dass sie es vor der perikleischen zeit getan hätten. unter den dreissig
haben sie jedenfalls in alter weise todesurteile auch über solche die leugneten ge-
fällt und vollziehen lassen: das nur kann motiviren, dass sie von der amnestie aus-
genommen wurden.
71) Auf diese bedeutung der stelle hat Lipsius sofort aufmerksam gemacht.
rechtlich liegt die sache so, dass die elf da competent sind, wo das beschleunigte
verfahren der apagoge statt hat, also flagrantes delict vorliegt. ob der im eigenen
oder im öffentlichen interesse einschreitende bürger den missetäter selbst zu der
behörde bringt (coercet apagei), oder eine meldung macht (endeiknusi), damit die
behörde ihn dingfest mache, ist für den straffall irrelevant. und nach dem rechte,
das gelten musste, seit die macht der magistratur zu gunsten der allgewalt des
volkes, d. h. des gerichtes gebrochen ist, musste in jedem falle, wo die qualität des
delictes als flagrant und manifest bestritten ward, das gericht angerufen werden,
dem folgerichtig die elf vorsassen: oder vielmehr einer von ihnen, denn es musste
doch einer oder vielmehr mehrere auf dem polizeibureau sein. nun ist aber auch
der rat (die prytanen) polizeibehörde, er nimmt also auch endeixeis an, die er
zur aburteilung, so weit wieder ein gericht nötig wird, den thesmotheten übergibt,
wie alle seine processe. daher concurriren elf und thesmotheten in den endeixeis.
da nun die alten magistrate immer mehr zu gunsten des rates tatsächlich zurück-
traten, ist wol begreiflich, dass jemand die endeixeis eis tous endeka vergessen
konnte.
I. 7. Die verfassung.

Diese reihe verwandter ämter wird passend beendet durch die exe-
cutivpolizei, deren organ, die elfmänner, wirklich seit Solon und länger
bestand70) und seine feste competenz hatte, die auch hier scharf be-
stimmt wird. nur ein punkt, ihr vorsitz in gewissen von einer denun-
tiation hervorgerufenen gerichtsverhandlungen, wird mit der nun schon
mehrfach bemerkten geflissentlichen bekräftigung, daſs eben die elf dies
zu tun hätten, hervorgehoben, die auch hier dafür zeugnis ablegt, daſs
Aristoteles eine andere behandlung des gegenstandes vor augen hat.71)

Passend folgen auf die polizei die richter, in attischem sinne also
die beamten, welche lediglich dazu erlost werden, gewisse rechtshändel
teils kurzer hand zu erledigen, vornehmlich aber sie einem geschwornen-
gerichte vorzulegen. zuerst stehn die fünf männer für das einbringen
der schleunigen klagen, die schon um die mitte des fünften jahrhunderts
geschaffen waren, als die processe der bundesgenossen den gewöhnlichen

zeit zufrieden geben. die angabe des Aristoteles zu bezweifeln, ist kein grund
vorhanden.
70) Die zahl elf zeugte von jeher genug dafür, daſs diese behörde älter als
Kleisthenes war. mit den phylen ist sie erst 306 ausgeglichen (Poll. 8, 102); wie sie
bis dahin in den elf vertreten waren, ist unbekannt. übrigens ist die verhältnismäſsig
hohe ungerade zahl in der alten zeit aus dem nämlichen grunde gewählt wie die der
51 epheten: die elf sollen als magistratscollegium richten und ein urteil durch mehr-
heit finden. es ist denaturirung, wenn sie ein volksgericht berufen, und ich möchte
nicht versichern, daſs sie es vor der perikleischen zeit getan hätten. unter den dreiſsig
haben sie jedenfalls in alter weise todesurteile auch über solche die leugneten ge-
fällt und vollziehen lassen: das nur kann motiviren, daſs sie von der amnestie aus-
genommen wurden.
71) Auf diese bedeutung der stelle hat Lipsius sofort aufmerksam gemacht.
rechtlich liegt die sache so, daſs die elf da competent sind, wo das beschleunigte
verfahren der ἀπαγωγή statt hat, also flagrantes delict vorliegt. ob der im eigenen
oder im öffentlichen interesse einschreitende bürger den missetäter selbst zu der
behörde bringt (coercet ἀπάγει), oder eine meldung macht (ἐνδείκνυσι), damit die
behörde ihn dingfest mache, ist für den straffall irrelevant. und nach dem rechte,
das gelten muſste, seit die macht der magistratur zu gunsten der allgewalt des
volkes, d. h. des gerichtes gebrochen ist, muſste in jedem falle, wo die qualität des
delictes als flagrant und manifest bestritten ward, das gericht angerufen werden,
dem folgerichtig die elf vorsaſsen: oder vielmehr einer von ihnen, denn es muſste
doch einer oder vielmehr mehrere auf dem polizeibureau sein. nun ist aber auch
der rat (die prytanen) polizeibehörde, er nimmt also auch ἐνδείξεις an, die er
zur aburteilung, so weit wieder ein gericht nötig wird, den thesmotheten übergibt,
wie alle seine processe. daher concurriren elf und thesmotheten in den ἐνδείξεις.
da nun die alten magistrate immer mehr zu gunsten des rates tatsächlich zurück-
traten, ist wol begreiflich, daſs jemand die ἐνδείξεις εἰς τοὺς ἕνδεκα vergessen
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[222/0236] I. 7. Die verfassung. Diese reihe verwandter ämter wird passend beendet durch die exe- cutivpolizei, deren organ, die elfmänner, wirklich seit Solon und länger bestand 70) und seine feste competenz hatte, die auch hier scharf be- stimmt wird. nur ein punkt, ihr vorsitz in gewissen von einer denun- tiation hervorgerufenen gerichtsverhandlungen, wird mit der nun schon mehrfach bemerkten geflissentlichen bekräftigung, daſs eben die elf dies zu tun hätten, hervorgehoben, die auch hier dafür zeugnis ablegt, daſs Aristoteles eine andere behandlung des gegenstandes vor augen hat. 71) Passend folgen auf die polizei die richter, in attischem sinne also die beamten, welche lediglich dazu erlost werden, gewisse rechtshändel teils kurzer hand zu erledigen, vornehmlich aber sie einem geschwornen- gerichte vorzulegen. zuerst stehn die fünf männer für das einbringen der schleunigen klagen, die schon um die mitte des fünften jahrhunderts geschaffen waren, als die processe der bundesgenossen den gewöhnlichen 69) 70) Die zahl elf zeugte von jeher genug dafür, daſs diese behörde älter als Kleisthenes war. mit den phylen ist sie erst 306 ausgeglichen (Poll. 8, 102); wie sie bis dahin in den elf vertreten waren, ist unbekannt. übrigens ist die verhältnismäſsig hohe ungerade zahl in der alten zeit aus dem nämlichen grunde gewählt wie die der 51 epheten: die elf sollen als magistratscollegium richten und ein urteil durch mehr- heit finden. es ist denaturirung, wenn sie ein volksgericht berufen, und ich möchte nicht versichern, daſs sie es vor der perikleischen zeit getan hätten. unter den dreiſsig haben sie jedenfalls in alter weise todesurteile auch über solche die leugneten ge- fällt und vollziehen lassen: das nur kann motiviren, daſs sie von der amnestie aus- genommen wurden. 71) Auf diese bedeutung der stelle hat Lipsius sofort aufmerksam gemacht. rechtlich liegt die sache so, daſs die elf da competent sind, wo das beschleunigte verfahren der ἀπαγωγή statt hat, also flagrantes delict vorliegt. ob der im eigenen oder im öffentlichen interesse einschreitende bürger den missetäter selbst zu der behörde bringt (coercet ἀπάγει), oder eine meldung macht (ἐνδείκνυσι), damit die behörde ihn dingfest mache, ist für den straffall irrelevant. und nach dem rechte, das gelten muſste, seit die macht der magistratur zu gunsten der allgewalt des volkes, d. h. des gerichtes gebrochen ist, muſste in jedem falle, wo die qualität des delictes als flagrant und manifest bestritten ward, das gericht angerufen werden, dem folgerichtig die elf vorsaſsen: oder vielmehr einer von ihnen, denn es muſste doch einer oder vielmehr mehrere auf dem polizeibureau sein. nun ist aber auch der rat (die prytanen) polizeibehörde, er nimmt also auch ἐνδείξεις an, die er zur aburteilung, so weit wieder ein gericht nötig wird, den thesmotheten übergibt, wie alle seine processe. daher concurriren elf und thesmotheten in den ἐνδείξεις. da nun die alten magistrate immer mehr zu gunsten des rates tatsächlich zurück- traten, ist wol begreiflich, daſs jemand die ἐνδείξεις εἰς τοὺς ἕνδεκα vergessen konnte. 69) zeit zufrieden geben. die angabe des Aristoteles zu bezweifeln, ist kein grund vorhanden.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/236>, abgerufen am 19.04.2024.