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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 7. Die verfassung.
staat die erziehung in der hand hielt und studienräte erwählte. es lassen sich
schlecht für eine negative behauptung stellen anführen, aber man lese
den Areopagiticus, der die sorge für die eukosmia an der alten zeit und
dem Areopage preist: konnten damals in Athen sophronisten sein? man
lese das siebente buch oder besser alle der platonischen Gesetze, die
immerfort die jugenderziehung im auge haben und die genauesten vor-
schriften geben: hat Platon auch nur eine ahnung davon, dass in Athen
gar in besonders feierlicher weise, noch sorgsamer als die feldherrn,
beamte gewählt würden, die kosmiotes und sophrosune der jugend
pflegen? ganz zu schweigen von der zeit, deren abbild in den sokra-
tischen dialogen10) und der älteren komoedie lebt, die doch allerorten
diese verhältnisse berühren müssten: nur der Axiochos tut es, ein schrift-
stück schwerlich noch des dritten jahrhunderts. man überlege sich die
jugendgeschichte aller bekannten personen: erst für Epikuros und
Menandros macht ihre ephebie oder besser synephebie epoche, und
sunepheboi wird in der neuen komoedie ein beliebter titel. aber noch
mehr: man lese Aischines gegen Timarchos, wie kratzt er aus allen
ecken der gesetze die belege für zucht und ehrbarkeit der jugend zu-
sammen, hätte er wol die sophronistai vergessen? und wie replicirt
Demosthenes (19, 285), als er um den bösen stein des anstosses herum-
laviren will, den der process des Timarchos für ihn bildete "nicht
eure jugend hat Aischines tugendhaft machen wollen (sophronas). das
sind sie noch, gott sei dank, und möge es dem vaterlande nie so
schlecht gehn, dass sie Aischines und seine sippe zu tugendpredigern
(sophronistai) brauchte." als witz braucht er das wort sophronistai,
durch die moraltriefende rede ist Aischines einer geworden: damals gab
es kein durch eine doppelwahl besetztes öffentliches amt des titels, und
gab es überhaupt die sache nicht in Athen. und noch mehr: Aristoteles
zählt am schlusse des siebenten buches der Politik die ämter für er-
ziehung auf, paidonomoi, gumnasiarkhoi u. a., die in einigen städten,
die es sich erlauben könnten, existirten: da ist keine spur von der
attischen ephebie und ihren organen. es gehört das buch wol zu den
ältesten teilen der Politik, aber es ist doch immer nach 338 geschrieben.

10) Z. b. Xenoph. Mem. 3, 5, dessen rat darauf hinausläuft, den Athenern die
besetzung der pässe nach Boeotien, d. h. die von Oinoe Panakton Phyle durch leichte
infanterie zu empfehlen und die ausbildung der jungen mannschaft für diesen zweck.
das kann, wie E. Schwartz mit recht gesagt hat, erst einige zeit nach Leuktra
geschrieben sein. damals hat selbst der dienst der peripoloi, den er in den Poroi
und die eleusinische inschrift von 353 kennt, nicht bestanden, geschweige irgend
eine militärische ausbildung der jugend.

I. 7. Die verfassung.
staat die erziehung in der hand hielt und studienräte erwählte. es lassen sich
schlecht für eine negative behauptung stellen anführen, aber man lese
den Areopagiticus, der die sorge für die εὐκοσμία an der alten zeit und
dem Areopage preist: konnten damals in Athen sophronisten sein? man
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immerfort die jugenderziehung im auge haben und die genauesten vor-
schriften geben: hat Platon auch nur eine ahnung davon, daſs in Athen
gar in besonders feierlicher weise, noch sorgsamer als die feldherrn,
beamte gewählt würden, die κοσμιότης und σωφϱοσύνη der jugend
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jugendgeschichte aller bekannten personen: erst für Epikuros und
Menandros macht ihre ephebie oder besser synephebie epoche, und
συνέφηβοι wird in der neuen komoedie ein beliebter titel. aber noch
mehr: man lese Aischines gegen Timarchos, wie kratzt er aus allen
ecken der gesetze die belege für zucht und ehrbarkeit der jugend zu-
sammen, hätte er wol die σωφϱονισταί vergessen? und wie replicirt
Demosthenes (19, 285), als er um den bösen stein des anstoſses herum-
laviren will, den der process des Timarchos für ihn bildete “nicht
eure jugend hat Aischines tugendhaft machen wollen (σώφϱονας). das
sind sie noch, gott sei dank, und möge es dem vaterlande nie so
schlecht gehn, daſs sie Aischines und seine sippe zu tugendpredigern
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durch die moraltriefende rede ist Aischines einer geworden: damals gab
es kein durch eine doppelwahl besetztes öffentliches amt des titels, und
gab es überhaupt die sache nicht in Athen. und noch mehr: Aristoteles
zählt am schlusse des siebenten buches der Politik die ämter für er-
ziehung auf, παιδονόμοι, γυμνασίαϱχοι u. a., die in einigen städten,
die es sich erlauben könnten, existirten: da ist keine spur von der
attischen ephebie und ihren organen. es gehört das buch wol zu den
ältesten teilen der Politik, aber es ist doch immer nach 338 geschrieben.

10) Z. b. Xenoph. Mem. 3, 5, dessen rat darauf hinausläuft, den Athenern die
besetzung der pässe nach Boeotien, d. h. die von Oinoe Panakton Phyle durch leichte
infanterie zu empfehlen und die ausbildung der jungen mannschaft für diesen zweck.
das kann, wie E. Schwartz mit recht gesagt hat, erst einige zeit nach Leuktra
geschrieben sein. damals hat selbst der dienst der πεϱίπολοι, den er in den Πόϱοι
und die eleusinische inschrift von 353 kennt, nicht bestanden, geschweige irgend
eine militärische ausbildung der jugend.
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[192/0206] I. 7. Die verfassung. staat die erziehung in der hand hielt und studienräte erwählte. es lassen sich schlecht für eine negative behauptung stellen anführen, aber man lese den Areopagiticus, der die sorge für die εὐκοσμία an der alten zeit und dem Areopage preist: konnten damals in Athen sophronisten sein? man lese das siebente buch oder besser alle der platonischen Gesetze, die immerfort die jugenderziehung im auge haben und die genauesten vor- schriften geben: hat Platon auch nur eine ahnung davon, daſs in Athen gar in besonders feierlicher weise, noch sorgsamer als die feldherrn, beamte gewählt würden, die κοσμιότης und σωφϱοσύνη der jugend pflegen? ganz zu schweigen von der zeit, deren abbild in den sokra- tischen dialogen 10) und der älteren komoedie lebt, die doch allerorten diese verhältnisse berühren müſsten: nur der Axiochos tut es, ein schrift- stück schwerlich noch des dritten jahrhunderts. man überlege sich die jugendgeschichte aller bekannten personen: erst für Epikuros und Menandros macht ihre ephebie oder besser synephebie epoche, und συνέφηβοι wird in der neuen komoedie ein beliebter titel. aber noch mehr: man lese Aischines gegen Timarchos, wie kratzt er aus allen ecken der gesetze die belege für zucht und ehrbarkeit der jugend zu- sammen, hätte er wol die σωφϱονισταί vergessen? und wie replicirt Demosthenes (19, 285), als er um den bösen stein des anstoſses herum- laviren will, den der process des Timarchos für ihn bildete “nicht eure jugend hat Aischines tugendhaft machen wollen (σώφϱονας). das sind sie noch, gott sei dank, und möge es dem vaterlande nie so schlecht gehn, daſs sie Aischines und seine sippe zu tugendpredigern (σωφϱονισταί) brauchte.” als witz braucht er das wort σωφϱονισταί, durch die moraltriefende rede ist Aischines einer geworden: damals gab es kein durch eine doppelwahl besetztes öffentliches amt des titels, und gab es überhaupt die sache nicht in Athen. und noch mehr: Aristoteles zählt am schlusse des siebenten buches der Politik die ämter für er- ziehung auf, παιδονόμοι, γυμνασίαϱχοι u. a., die in einigen städten, die es sich erlauben könnten, existirten: da ist keine spur von der attischen ephebie und ihren organen. es gehört das buch wol zu den ältesten teilen der Politik, aber es ist doch immer nach 338 geschrieben. 10) Z. b. Xenoph. Mem. 3, 5, dessen rat darauf hinausläuft, den Athenern die besetzung der pässe nach Boeotien, d. h. die von Oinoe Panakton Phyle durch leichte infanterie zu empfehlen und die ausbildung der jungen mannschaft für diesen zweck. das kann, wie E. Schwartz mit recht gesagt hat, erst einige zeit nach Leuktra geschrieben sein. damals hat selbst der dienst der πεϱίπολοι, den er in den Πόϱοι und die eleusinische inschrift von 353 kennt, nicht bestanden, geschweige irgend eine militärische ausbildung der jugend.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/206>, abgerufen am 19.04.2024.