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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
stand ihm zur seite, trat aber vor ihm zurück. wer der vierte der auf-
erstandenen war, ist bisher noch nicht sicher ermittelt, so wenig wie
die eigentliche fabel der komoedie: dass die Athener aber in ihr die
ganze geschichte ihrer demokratie verkörpert in den demagogen leibhaft
vor augen hatten, und die schöpfungen des dichters, dem es wie wenigen
gegeben war, unvergessliche schlagworte zu prägen, und der zwar im
freien reiche der phantasie dem fluge des Aristophanes nicht folgen
kann, aber den politischen und persönlichen kampf ungleich kühner
und patriotischer führt als jener, auf alle die, welche die Demen ge-
sehen hatten, eine macht ausübten, auch wenn sie seinem urteil über
die personen nicht folgen mochten: das ist deutlich. so wirkt die ächte
poesie, und der dichter der Demen to kentron egkateleipe tois
akroomenois.88) mich dünkt es frappant, dass die schrift des Theramenes
ein oligarchisches widerspiel zu den Demoi des demokratischen dichters ist.

88) Wie die leute, die doch den Eupolis (von dem radikalen Hermippos zu
schweigen) einigermassen kennen mussten, auf die unaussprechliche torheit haben
verfallen können, die attische komoedie wäre immer antidemokratisch gewesen,
habe ich nie begriffen; weder Aristophanes noch seine gesellen sind so armselig,
alle und immer aus demselben tone zu pfeifen. die komoedie, die dem volke ge-
fallen will, wird einerseits notwendigerweise der stimmung des volkes nicht zu-
widerlaufen, und die Athener waren aufrichtige demokraten, Perikles und Theramenes
so gut wie Kleon und Kleophon; sie verstanden nur unter der patrios demokratia
etwas verschiedenes; dem entsprechen die politischen unterschiede des Aristophanes
und Eupolis. andererseits spottet die komoedie, sie muss also mehr oder minder
oppositionell sein, d. h. die jeweilig herrschenden und allgemein interessirenden
personen anzapfen: das sind bis 411 die demokraten. -- die nachwirkung der komoedie,
sowol ihrer kunst wie ihrer poetischen erfindungen wie auch ihrer urteile über die
personen, ist weit bedeutender, als man sie schätzt. Platon hat nicht ohne selbst-
erkenntnis dem Aristophanes ein schönes epigramm und eine hervorragende rolle
in dem werke gewidmet, das am meisten von aristophanischer kharis an sich trägt.
die Apologie zeigt auch, wie einflussreich selbst ein so verfehltes und durchgefallenes
stück wie die Wolken für das volksurteil über Sokrates geworden war. aber
Platons übermenschliche kunst macht sich alles was er von andern lernt völlig zu
eigen. Xenophon steht unendlich tiefer: er hat eben darum nur kenntlichere be-
ziehungen zu der komoedie. denn es braucht doch wol nur ausgesprochen zu
werden, dass sein Symposion die ganze scenerie von dem Autolykos und den
Schmeichlern (die auch für Platons Protagoras wichtig sind) entlehnt hat. freilich
wollte Xenophon, wolmeinend und ungeschickt wie er ist, das renommee der dort
so schmählich verhöhnten personen rehabilitiren. Autolykos, der ein opfer der
Dreissig geworden war, mag ihm selbst nahe gestanden haben, und dass Lykon, der
spätere ankläger des Sokrates, diesem hier das zeugnis ausstellt, der beste tugend-
lehrer zu sein, mag dem Xenophon witzig vorgekommen sein. er hat ja sogar in
die Kyropaedie (III 1, 38--40) eine partie eingelegt, die erst verständlich wird,

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
stand ihm zur seite, trat aber vor ihm zurück. wer der vierte der auf-
erstandenen war, ist bisher noch nicht sicher ermittelt, so wenig wie
die eigentliche fabel der komoedie: daſs die Athener aber in ihr die
ganze geschichte ihrer demokratie verkörpert in den demagogen leibhaft
vor augen hatten, und die schöpfungen des dichters, dem es wie wenigen
gegeben war, unvergeſsliche schlagworte zu prägen, und der zwar im
freien reiche der phantasie dem fluge des Aristophanes nicht folgen
kann, aber den politischen und persönlichen kampf ungleich kühner
und patriotischer führt als jener, auf alle die, welche die Demen ge-
sehen hatten, eine macht ausübten, auch wenn sie seinem urteil über
die personen nicht folgen mochten: das ist deutlich. so wirkt die ächte
poesie, und der dichter der Demen τὸ κέντϱον ἐγκατέλειπε τοῖς
ἀκϱοωμένοις.88) mich dünkt es frappant, daſs die schrift des Theramenes
ein oligarchisches widerspiel zu den Δῆμοι des demokratischen dichters ist.

88) Wie die leute, die doch den Eupolis (von dem radikalen Hermippos zu
schweigen) einigermaſsen kennen muſsten, auf die unaussprechliche torheit haben
verfallen können, die attische komoedie wäre immer antidemokratisch gewesen,
habe ich nie begriffen; weder Aristophanes noch seine gesellen sind so armselig,
alle und immer aus demselben tone zu pfeifen. die komoedie, die dem volke ge-
fallen will, wird einerseits notwendigerweise der stimmung des volkes nicht zu-
widerlaufen, und die Athener waren aufrichtige demokraten, Perikles und Theramenes
so gut wie Kleon und Kleophon; sie verstanden nur unter der πάτϱιος δημοκϱατία
etwas verschiedenes; dem entsprechen die politischen unterschiede des Aristophanes
und Eupolis. andererseits spottet die komoedie, sie muſs also mehr oder minder
oppositionell sein, d. h. die jeweilig herrschenden und allgemein interessirenden
personen anzapfen: das sind bis 411 die demokraten. — die nachwirkung der komoedie,
sowol ihrer kunst wie ihrer poetischen erfindungen wie auch ihrer urteile über die
personen, ist weit bedeutender, als man sie schätzt. Platon hat nicht ohne selbst-
erkenntnis dem Aristophanes ein schönes epigramm und eine hervorragende rolle
in dem werke gewidmet, das am meisten von aristophanischer χάϱις an sich trägt.
die Apologie zeigt auch, wie einfluſsreich selbst ein so verfehltes und durchgefallenes
stück wie die Wolken für das volksurteil über Sokrates geworden war. aber
Platons übermenschliche kunst macht sich alles was er von andern lernt völlig zu
eigen. Xenophon steht unendlich tiefer: er hat eben darum nur kenntlichere be-
ziehungen zu der komoedie. denn es braucht doch wol nur ausgesprochen zu
werden, daſs sein Symposion die ganze scenerie von dem Autolykos und den
Schmeichlern (die auch für Platons Protagoras wichtig sind) entlehnt hat. freilich
wollte Xenophon, wolmeinend und ungeschickt wie er ist, das renommée der dort
so schmählich verhöhnten personen rehabilitiren. Autolykos, der ein opfer der
Dreiſsig geworden war, mag ihm selbst nahe gestanden haben, und daſs Lykon, der
spätere ankläger des Sokrates, diesem hier das zeugnis ausstellt, der beste tugend-
lehrer zu sein, mag dem Xenophon witzig vorgekommen sein. er hat ja sogar in
die Kyropaedie (III 1, 38—40) eine partie eingelegt, die erst verständlich wird,
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[182/0196] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. stand ihm zur seite, trat aber vor ihm zurück. wer der vierte der auf- erstandenen war, ist bisher noch nicht sicher ermittelt, so wenig wie die eigentliche fabel der komoedie: daſs die Athener aber in ihr die ganze geschichte ihrer demokratie verkörpert in den demagogen leibhaft vor augen hatten, und die schöpfungen des dichters, dem es wie wenigen gegeben war, unvergeſsliche schlagworte zu prägen, und der zwar im freien reiche der phantasie dem fluge des Aristophanes nicht folgen kann, aber den politischen und persönlichen kampf ungleich kühner und patriotischer führt als jener, auf alle die, welche die Demen ge- sehen hatten, eine macht ausübten, auch wenn sie seinem urteil über die personen nicht folgen mochten: das ist deutlich. so wirkt die ächte poesie, und der dichter der Demen τὸ κέντϱον ἐγκατέλειπε τοῖς ἀκϱοωμένοις. 88) mich dünkt es frappant, daſs die schrift des Theramenes ein oligarchisches widerspiel zu den Δῆμοι des demokratischen dichters ist. 88) Wie die leute, die doch den Eupolis (von dem radikalen Hermippos zu schweigen) einigermaſsen kennen muſsten, auf die unaussprechliche torheit haben verfallen können, die attische komoedie wäre immer antidemokratisch gewesen, habe ich nie begriffen; weder Aristophanes noch seine gesellen sind so armselig, alle und immer aus demselben tone zu pfeifen. die komoedie, die dem volke ge- fallen will, wird einerseits notwendigerweise der stimmung des volkes nicht zu- widerlaufen, und die Athener waren aufrichtige demokraten, Perikles und Theramenes so gut wie Kleon und Kleophon; sie verstanden nur unter der πάτϱιος δημοκϱατία etwas verschiedenes; dem entsprechen die politischen unterschiede des Aristophanes und Eupolis. andererseits spottet die komoedie, sie muſs also mehr oder minder oppositionell sein, d. h. die jeweilig herrschenden und allgemein interessirenden personen anzapfen: das sind bis 411 die demokraten. — die nachwirkung der komoedie, sowol ihrer kunst wie ihrer poetischen erfindungen wie auch ihrer urteile über die personen, ist weit bedeutender, als man sie schätzt. Platon hat nicht ohne selbst- erkenntnis dem Aristophanes ein schönes epigramm und eine hervorragende rolle in dem werke gewidmet, das am meisten von aristophanischer χάϱις an sich trägt. die Apologie zeigt auch, wie einfluſsreich selbst ein so verfehltes und durchgefallenes stück wie die Wolken für das volksurteil über Sokrates geworden war. aber Platons übermenschliche kunst macht sich alles was er von andern lernt völlig zu eigen. Xenophon steht unendlich tiefer: er hat eben darum nur kenntlichere be- ziehungen zu der komoedie. denn es braucht doch wol nur ausgesprochen zu werden, daſs sein Symposion die ganze scenerie von dem Autolykos und den Schmeichlern (die auch für Platons Protagoras wichtig sind) entlehnt hat. freilich wollte Xenophon, wolmeinend und ungeschickt wie er ist, das renommée der dort so schmählich verhöhnten personen rehabilitiren. Autolykos, der ein opfer der Dreiſsig geworden war, mag ihm selbst nahe gestanden haben, und daſs Lykon, der spätere ankläger des Sokrates, diesem hier das zeugnis ausstellt, der beste tugend- lehrer zu sein, mag dem Xenophon witzig vorgekommen sein. er hat ja sogar in die Kyropaedie (III 1, 38—40) eine partie eingelegt, die erst verständlich wird,

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/196>, abgerufen am 29.03.2024.