Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Die politische litteratur Athens.
andererseits schrieb der thasische litterat Stesimbrotos 429 die erste
brochure mit einer praktisch politischen tendenz, wol auf bestellung.
die schilderung, die Ion von den besuchen berühmter leute in seiner
heimat entwirft, nicht ohne sonst vielerlei aus seinen erlebnissen mit-
zuteilen, ist eine uns sehr modern anmutende erscheinung derselben
ionischen istorie, die Skylax und Euthymenes zu ihren reiseberichten,
Herodot, der die politische tendenz in Athen erhielt, zu seiner isto-
ries apodexis trieb.

Erst als der kampf der jungen gegen die alten beginnt, den uns
am besten die komoedien des jungen Aristophanes zeigen, der für die
alten schreibt, wird die neue waffe mit macht geschwungen. zwar be-
ginnt die reihe ein älterer. der oligarch, der bald nach Perikles tode mit
widerwilliger bewunderung die consequenz und die unüberwindlichkeit
des demos darlegt, ist kein jüngling: seine belege wählt er aus den
fünfziger jahren, und er misbilligt auch die praktischen pläne seiner
heissblütigen gesinnungsgenossen.72) jugend lässt sich nicht halten.
Andokides hetzt seinen clubb wider den demos mit leidenschaftlichster
persönlicher polemik. der bejahrtere Antiphon bereitet die revolution
vor, indem er sich der Reichsstädte vor dem volksgerichte annimmt und,
ähnlich wie Ephialtes vor dem angriffe auf den Areopag, die männer
der regierung mit processen verfolgt.73) man veröffentlicht jetzt vielfach
solche reden, auch wenn sie lediglich persönliches interesse erwecken,
nicht als sophistische schaustücke, sondern im interesse der personen
und um politisch zu wirken.74) das plaidoyer wird erst jetzt litterarisch;
nicht die fremden sophisten, die sie schrieben, sondern die bürger die

rede. wer die titel sich überlegt (und die fragmente daneben auch) wird nicht an-
stehn, den politikos dem politiker Antiphon zuzuschreiben trotz Hermogenes.
72) Der verfasser der Politeia Athenaion gibt seine lebenserfahrung, seine
gnome, so gut wie Herakleitos. aber er gibt sie nicht ohne praktische tendenz als
material für den forscher über verfassungen, er gibt sie für den tag, an dem er lebt,
nicht für uns spätgeborne. das hat nicht einmal Aristoteles getan, geschweige ein
mann, der so tief in das getriebe des staates schaut. er will belehren, aus seiner
erfahrung seinen leuten die richtschnur für ihr handeln geben "conspirirt nicht wider
den demos, es nützt nichts. transigirt nicht mit dem demos: der kann nur die
canaille brauchen". einer der klug und kalt geworden ist, aber das ancien regime
nicht verleugnen will, das er doch für verloren ansieht, mahnt die stürmische jugend
der partei zu der resignation, die nur dem alter ansteht. die jugend hat denn auch
damals so wenig wie zu irgend einer zeit auf solche mahnung gehört. das ist einer
der gnorimoi, wie sie bei Tanagra ihre loyalität mit dem blute besiegelt haben.
73) Vgl. die beilage 'die zeit der Thesmophoriazusen'.
74) Vgl. die beilage 'über die rede für Polystratos'.

Die politische litteratur Athens.
andererseits schrieb der thasische litterat Stesimbrotos 429 die erste
brochure mit einer praktisch politischen tendenz, wol auf bestellung.
die schilderung, die Ion von den besuchen berühmter leute in seiner
heimat entwirft, nicht ohne sonst vielerlei aus seinen erlebnissen mit-
zuteilen, ist eine uns sehr modern anmutende erscheinung derselben
ionischen ἱστοϱίη, die Skylax und Euthymenes zu ihren reiseberichten,
Herodot, der die politische tendenz in Athen erhielt, zu seiner ἵστο-
ϱίης ἀπόδεξις trieb.

Erst als der kampf der jungen gegen die alten beginnt, den uns
am besten die komoedien des jungen Aristophanes zeigen, der für die
alten schreibt, wird die neue waffe mit macht geschwungen. zwar be-
ginnt die reihe ein älterer. der oligarch, der bald nach Perikles tode mit
widerwilliger bewunderung die consequenz und die unüberwindlichkeit
des demos darlegt, ist kein jüngling: seine belege wählt er aus den
fünfziger jahren, und er misbilligt auch die praktischen pläne seiner
heiſsblütigen gesinnungsgenossen.72) jugend läſst sich nicht halten.
Andokides hetzt seinen clubb wider den demos mit leidenschaftlichster
persönlicher polemik. der bejahrtere Antiphon bereitet die revolution
vor, indem er sich der Reichsstädte vor dem volksgerichte annimmt und,
ähnlich wie Ephialtes vor dem angriffe auf den Areopag, die männer
der regierung mit processen verfolgt.73) man veröffentlicht jetzt vielfach
solche reden, auch wenn sie lediglich persönliches interesse erwecken,
nicht als sophistische schaustücke, sondern im interesse der personen
und um politisch zu wirken.74) das plaidoyer wird erst jetzt litterarisch;
nicht die fremden sophisten, die sie schrieben, sondern die bürger die

rede. wer die titel sich überlegt (und die fragmente daneben auch) wird nicht an-
stehn, den πολιτικός dem politiker Antiphon zuzuschreiben trotz Hermogenes.
72) Der verfasser der Πολιτεία Ἀϑηναίων gibt seine lebenserfahrung, seine
γνώμη, so gut wie Herakleitos. aber er gibt sie nicht ohne praktische tendenz als
material für den forscher über verfassungen, er gibt sie für den tag, an dem er lebt,
nicht für uns spätgeborne. das hat nicht einmal Aristoteles getan, geschweige ein
mann, der so tief in das getriebe des staates schaut. er will belehren, aus seiner
erfahrung seinen leuten die richtschnur für ihr handeln geben “conspirirt nicht wider
den demos, es nützt nichts. transigirt nicht mit dem demos: der kann nur die
canaille brauchen”. einer der klug und kalt geworden ist, aber das ancien regime
nicht verleugnen will, das er doch für verloren ansieht, mahnt die stürmische jugend
der partei zu der resignation, die nur dem alter ansteht. die jugend hat denn auch
damals so wenig wie zu irgend einer zeit auf solche mahnung gehört. das ist einer
der γνώϱιμοι, wie sie bei Tanagra ihre loyalität mit dem blute besiegelt haben.
73) Vgl. die beilage ‘die zeit der Thesmophoriazusen’.
74) Vgl. die beilage ‘über die rede für Polystratos’.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0185" n="171"/><fw place="top" type="header">Die politische litteratur Athens.</fw><lb/>
andererseits schrieb der thasische litterat Stesimbrotos 429 die erste<lb/>
brochure mit einer praktisch politischen tendenz, wol auf bestellung.<lb/>
die schilderung, die Ion von den besuchen berühmter leute in seiner<lb/>
heimat entwirft, nicht ohne sonst vielerlei aus seinen erlebnissen mit-<lb/>
zuteilen, ist eine uns sehr modern anmutende erscheinung derselben<lb/>
ionischen &#x1F31;&#x03C3;&#x03C4;&#x03BF;&#x03F1;&#x03AF;&#x03B7;, die Skylax und Euthymenes zu ihren reiseberichten,<lb/>
Herodot, der die politische tendenz in Athen erhielt, zu seiner &#x1F35;&#x03C3;&#x03C4;&#x03BF;-<lb/>
&#x03F1;&#x03AF;&#x03B7;&#x03C2; &#x1F00;&#x03C0;&#x03CC;&#x03B4;&#x03B5;&#x03BE;&#x03B9;&#x03C2; trieb.</p><lb/>
          <p>Erst als der kampf der jungen gegen die alten beginnt, den uns<lb/>
am besten die komoedien des jungen Aristophanes zeigen, der für die<lb/>
alten schreibt, wird die neue waffe mit macht geschwungen. zwar be-<lb/>
ginnt die reihe ein älterer. der oligarch, der bald nach Perikles tode mit<lb/>
widerwilliger bewunderung die consequenz und die unüberwindlichkeit<lb/>
des demos darlegt, ist kein jüngling: seine belege wählt er aus den<lb/>
fünfziger jahren, und er misbilligt auch die praktischen pläne seiner<lb/>
hei&#x017F;sblütigen gesinnungsgenossen.<note place="foot" n="72)">Der verfasser der &#x03A0;&#x03BF;&#x03BB;&#x03B9;&#x03C4;&#x03B5;&#x03AF;&#x03B1; &#x1F08;&#x03D1;&#x03B7;&#x03BD;&#x03B1;&#x03AF;&#x03C9;&#x03BD; gibt seine lebenserfahrung, seine<lb/>
&#x03B3;&#x03BD;&#x03CE;&#x03BC;&#x03B7;, so gut wie Herakleitos. aber er gibt sie nicht ohne praktische tendenz als<lb/>
material für den forscher über verfassungen, er gibt sie für den tag, an dem er lebt,<lb/>
nicht für uns spätgeborne. das hat nicht einmal Aristoteles getan, geschweige ein<lb/>
mann, der so tief in das getriebe des staates schaut. er will belehren, aus seiner<lb/>
erfahrung seinen leuten die richtschnur für ihr handeln geben &#x201C;conspirirt nicht wider<lb/>
den demos, es nützt nichts. transigirt nicht mit dem demos: der kann nur die<lb/>
canaille brauchen&#x201D;. einer der klug und kalt geworden ist, aber das <hi rendition="#i">ancien regime</hi><lb/>
nicht verleugnen will, das er doch für verloren ansieht, mahnt die stürmische jugend<lb/>
der partei zu der resignation, die nur dem alter ansteht. die jugend hat denn auch<lb/>
damals so wenig wie zu irgend einer zeit auf solche mahnung gehört. das ist einer<lb/>
der &#x03B3;&#x03BD;&#x03CE;&#x03F1;&#x03B9;&#x03BC;&#x03BF;&#x03B9;, wie sie bei Tanagra ihre loyalität mit dem blute besiegelt haben.</note> jugend lä&#x017F;st sich nicht halten.<lb/>
Andokides hetzt seinen clubb wider den demos mit leidenschaftlichster<lb/>
persönlicher polemik. der bejahrtere Antiphon bereitet die revolution<lb/>
vor, indem er sich der Reichsstädte vor dem volksgerichte annimmt und,<lb/>
ähnlich wie Ephialtes vor dem angriffe auf den Areopag, die männer<lb/>
der regierung mit processen verfolgt.<note place="foot" n="73)">Vgl. die beilage &#x2018;die zeit der Thesmophoriazusen&#x2019;.</note> man veröffentlicht jetzt vielfach<lb/>
solche reden, auch wenn sie lediglich persönliches interesse erwecken,<lb/>
nicht als sophistische schaustücke, sondern im interesse der personen<lb/>
und um politisch zu wirken.<note place="foot" n="74)">Vgl. die beilage &#x2018;über die rede für Polystratos&#x2019;.</note> das plaidoyer wird erst jetzt litterarisch;<lb/>
nicht die fremden sophisten, die sie schrieben, sondern die bürger die<lb/><note xml:id="note-0185" prev="#note-0184" place="foot" n="71)">rede. wer die titel sich überlegt (und die fragmente daneben auch) wird nicht an-<lb/>
stehn, den &#x03C0;&#x03BF;&#x03BB;&#x03B9;&#x03C4;&#x03B9;&#x03BA;&#x03CC;&#x03C2; dem politiker Antiphon zuzuschreiben trotz Hermogenes.</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[171/0185] Die politische litteratur Athens. andererseits schrieb der thasische litterat Stesimbrotos 429 die erste brochure mit einer praktisch politischen tendenz, wol auf bestellung. die schilderung, die Ion von den besuchen berühmter leute in seiner heimat entwirft, nicht ohne sonst vielerlei aus seinen erlebnissen mit- zuteilen, ist eine uns sehr modern anmutende erscheinung derselben ionischen ἱστοϱίη, die Skylax und Euthymenes zu ihren reiseberichten, Herodot, der die politische tendenz in Athen erhielt, zu seiner ἵστο- ϱίης ἀπόδεξις trieb. Erst als der kampf der jungen gegen die alten beginnt, den uns am besten die komoedien des jungen Aristophanes zeigen, der für die alten schreibt, wird die neue waffe mit macht geschwungen. zwar be- ginnt die reihe ein älterer. der oligarch, der bald nach Perikles tode mit widerwilliger bewunderung die consequenz und die unüberwindlichkeit des demos darlegt, ist kein jüngling: seine belege wählt er aus den fünfziger jahren, und er misbilligt auch die praktischen pläne seiner heiſsblütigen gesinnungsgenossen. 72) jugend läſst sich nicht halten. Andokides hetzt seinen clubb wider den demos mit leidenschaftlichster persönlicher polemik. der bejahrtere Antiphon bereitet die revolution vor, indem er sich der Reichsstädte vor dem volksgerichte annimmt und, ähnlich wie Ephialtes vor dem angriffe auf den Areopag, die männer der regierung mit processen verfolgt. 73) man veröffentlicht jetzt vielfach solche reden, auch wenn sie lediglich persönliches interesse erwecken, nicht als sophistische schaustücke, sondern im interesse der personen und um politisch zu wirken. 74) das plaidoyer wird erst jetzt litterarisch; nicht die fremden sophisten, die sie schrieben, sondern die bürger die 71) 72) Der verfasser der Πολιτεία Ἀϑηναίων gibt seine lebenserfahrung, seine γνώμη, so gut wie Herakleitos. aber er gibt sie nicht ohne praktische tendenz als material für den forscher über verfassungen, er gibt sie für den tag, an dem er lebt, nicht für uns spätgeborne. das hat nicht einmal Aristoteles getan, geschweige ein mann, der so tief in das getriebe des staates schaut. er will belehren, aus seiner erfahrung seinen leuten die richtschnur für ihr handeln geben “conspirirt nicht wider den demos, es nützt nichts. transigirt nicht mit dem demos: der kann nur die canaille brauchen”. einer der klug und kalt geworden ist, aber das ancien regime nicht verleugnen will, das er doch für verloren ansieht, mahnt die stürmische jugend der partei zu der resignation, die nur dem alter ansteht. die jugend hat denn auch damals so wenig wie zu irgend einer zeit auf solche mahnung gehört. das ist einer der γνώϱιμοι, wie sie bei Tanagra ihre loyalität mit dem blute besiegelt haben. 73) Vgl. die beilage ‘die zeit der Thesmophoriazusen’. 74) Vgl. die beilage ‘über die rede für Polystratos’. 71) rede. wer die titel sich überlegt (und die fragmente daneben auch) wird nicht an- stehn, den πολιτικός dem politiker Antiphon zuzuschreiben trotz Hermogenes.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/185
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/185>, abgerufen am 28.03.2024.