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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
soll, so heisst das, er besass was ein menschenalter später verschollen
war. dafür gibt es analogien genug. Theophrastos hat in seiner ge-
schichte der naturphilosophie mehr als ein buch als letzter benutzt.
dithyramben des Lasos hat Herakleides vom Pontos citirt; später kennt man
nichts ächtes mehr von ihm. die musikalische schrift des Damon hat
den Chamaileon nicht überlebt. die Politeia Athenaion hat sich nur
erhalten, weil sie mit der lakedaemonischen des Xenophon verwachsen
war; sie hat allerdings nur in den katalogen gestanden und ist ein oder
das andere mal von einem lexikographen eingesehen. denn man be-
trachtete diese Athen feindliche schriftstellerei mit einer solchen misgunst,
dass die prosaischen schriften des Kritias ein halbes jahrtausend verschollen
blieben und sogar ihre existenz oder ächtheit bestritten ward. weil die
schrift des Theramenes selbst verloren war, hat man die geschichten auf
die einzige autorität des Aristoteles stellen müssen, die dieser ihr ent-
lehnt hatte. das ist schon zu den zeiten geschehen, wo die biographische
compilation blühte, von der Plutarch abhängt. dagegen vor und neben
Aristoteles kennen wir zwei benutzer des Theramenes, den Xenophon,
der ein wort oder vielmehr eine gedankenreihe aus ihr citirt, vielleicht
auch sonst von ihr beeinflusst ist, und den Theopompos, der für seine
schilderung von Kimon und Kleon züge aus ihr geborgt hat, in wahr-
heit recht viel von der stimmung seines excurses über die attischen dema-
gogen ihr verdankt.

Es ist nichts geringes, wenn Aristoteles uns also die möglichkeit
gibt, eine parteischrift aus dem jahre der Dreissig zurückzugewinnen.
vielleicht nicht minder wertvoll ist es, dass die haltung des Aristoteles
gegenüber den grössen der demokratie sehr viel entschuldbarer wird,
wenn er das urteil dem Theramenes entlehnt hat. dass er diesen her-
vorzog, lag daran, dass er bei ihm seine eigene politische überzeugung
wiederfand. sein ideal war die politeia, eine sorte demokratie oder
aristokratie, die freilich mehr in dem gewächshause der speculation als
in dem freien lande des politischen lebens gedieh: die patrios poli-
teia des Theramenes kam ihr am nächsten; dass sie sich nicht viel
lebenskräftiger bewiesen hatte, focht den philosophen nicht an. so sym-
pathisirte er mit den praktischen tendenzen des Theramenes und kam
zu dem urteil, dass dieser bei eindringender betrachtung als der beste
staatsmann anerkannt werden müsste. dann war auch seine kritik der
älteren staatsmänner höchst beachtenswert, da er ja den richtigen mass-
stab für die beurteilung ihrer ziele besass. dass er von Drakon etwas
wusste, empfahl seine kenntnisse dem forscher. dass er daneben ver-

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
soll, so heiſst das, er besaſs was ein menschenalter später verschollen
war. dafür gibt es analogien genug. Theophrastos hat in seiner ge-
schichte der naturphilosophie mehr als ein buch als letzter benutzt.
dithyramben des Lasos hat Herakleides vom Pontos citirt; später kennt man
nichts ächtes mehr von ihm. die musikalische schrift des Damon hat
den Chamaileon nicht überlebt. die Πολιτεία Ἀϑηναίων hat sich nur
erhalten, weil sie mit der lakedaemonischen des Xenophon verwachsen
war; sie hat allerdings nur in den katalogen gestanden und ist ein oder
das andere mal von einem lexikographen eingesehen. denn man be-
trachtete diese Athen feindliche schriftstellerei mit einer solchen misgunst,
daſs die prosaischen schriften des Kritias ein halbes jahrtausend verschollen
blieben und sogar ihre existenz oder ächtheit bestritten ward. weil die
schrift des Theramenes selbst verloren war, hat man die geschichten auf
die einzige autorität des Aristoteles stellen müssen, die dieser ihr ent-
lehnt hatte. das ist schon zu den zeiten geschehen, wo die biographische
compilation blühte, von der Plutarch abhängt. dagegen vor und neben
Aristoteles kennen wir zwei benutzer des Theramenes, den Xenophon,
der ein wort oder vielmehr eine gedankenreihe aus ihr citirt, vielleicht
auch sonst von ihr beeinfluſst ist, und den Theopompos, der für seine
schilderung von Kimon und Kleon züge aus ihr geborgt hat, in wahr-
heit recht viel von der stimmung seines excurses über die attischen dema-
gogen ihr verdankt.

Es ist nichts geringes, wenn Aristoteles uns also die möglichkeit
gibt, eine parteischrift aus dem jahre der Dreiſsig zurückzugewinnen.
vielleicht nicht minder wertvoll ist es, daſs die haltung des Aristoteles
gegenüber den gröſsen der demokratie sehr viel entschuldbarer wird,
wenn er das urteil dem Theramenes entlehnt hat. daſs er diesen her-
vorzog, lag daran, daſs er bei ihm seine eigene politische überzeugung
wiederfand. sein ideal war die πολιτεία, eine sorte demokratie oder
aristokratie, die freilich mehr in dem gewächshause der speculation als
in dem freien lande des politischen lebens gedieh: die πάτϱιος πολι-
τεία des Theramenes kam ihr am nächsten; daſs sie sich nicht viel
lebenskräftiger bewiesen hatte, focht den philosophen nicht an. so sym-
pathisirte er mit den praktischen tendenzen des Theramenes und kam
zu dem urteil, daſs dieser bei eindringender betrachtung als der beste
staatsmann anerkannt werden müſste. dann war auch seine kritik der
älteren staatsmänner höchst beachtenswert, da er ja den richtigen maſs-
stab für die beurteilung ihrer ziele besaſs. daſs er von Drakon etwas
wuſste, empfahl seine kenntnisse dem forscher. daſs er daneben ver-

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[168/0182] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. soll, so heiſst das, er besaſs was ein menschenalter später verschollen war. dafür gibt es analogien genug. Theophrastos hat in seiner ge- schichte der naturphilosophie mehr als ein buch als letzter benutzt. dithyramben des Lasos hat Herakleides vom Pontos citirt; später kennt man nichts ächtes mehr von ihm. die musikalische schrift des Damon hat den Chamaileon nicht überlebt. die Πολιτεία Ἀϑηναίων hat sich nur erhalten, weil sie mit der lakedaemonischen des Xenophon verwachsen war; sie hat allerdings nur in den katalogen gestanden und ist ein oder das andere mal von einem lexikographen eingesehen. denn man be- trachtete diese Athen feindliche schriftstellerei mit einer solchen misgunst, daſs die prosaischen schriften des Kritias ein halbes jahrtausend verschollen blieben und sogar ihre existenz oder ächtheit bestritten ward. weil die schrift des Theramenes selbst verloren war, hat man die geschichten auf die einzige autorität des Aristoteles stellen müssen, die dieser ihr ent- lehnt hatte. das ist schon zu den zeiten geschehen, wo die biographische compilation blühte, von der Plutarch abhängt. dagegen vor und neben Aristoteles kennen wir zwei benutzer des Theramenes, den Xenophon, der ein wort oder vielmehr eine gedankenreihe aus ihr citirt, vielleicht auch sonst von ihr beeinfluſst ist, und den Theopompos, der für seine schilderung von Kimon und Kleon züge aus ihr geborgt hat, in wahr- heit recht viel von der stimmung seines excurses über die attischen dema- gogen ihr verdankt. Es ist nichts geringes, wenn Aristoteles uns also die möglichkeit gibt, eine parteischrift aus dem jahre der Dreiſsig zurückzugewinnen. vielleicht nicht minder wertvoll ist es, daſs die haltung des Aristoteles gegenüber den gröſsen der demokratie sehr viel entschuldbarer wird, wenn er das urteil dem Theramenes entlehnt hat. daſs er diesen her- vorzog, lag daran, daſs er bei ihm seine eigene politische überzeugung wiederfand. sein ideal war die πολιτεία, eine sorte demokratie oder aristokratie, die freilich mehr in dem gewächshause der speculation als in dem freien lande des politischen lebens gedieh: die πάτϱιος πολι- τεία des Theramenes kam ihr am nächsten; daſs sie sich nicht viel lebenskräftiger bewiesen hatte, focht den philosophen nicht an. so sym- pathisirte er mit den praktischen tendenzen des Theramenes und kam zu dem urteil, daſs dieser bei eindringender betrachtung als der beste staatsmann anerkannt werden müſste. dann war auch seine kritik der älteren staatsmänner höchst beachtenswert, da er ja den richtigen maſs- stab für die beurteilung ihrer ziele besaſs. daſs er von Drakon etwas wuſste, empfahl seine kenntnisse dem forscher. daſs er daneben ver-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/182>, abgerufen am 16.04.2024.