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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
nomotheten die zahl von 400 für den rat als kata ta patria. der
verfasser der parteischrift hat in der verfassung Drakons dem schlag-
worte einen concreten inhalt gegeben, und es unterliegt keinem zweifel,
dass sie es gewesen ist, die auch jenen nomotheten von 411 zum muster
gedient hat. damals haben erst die ausschreitungen der ultras die un-
leugbar in der stadt vorhandenen sympathien für die neue ordnung ver-
scherzt. 68) 404 verhinderte Lysandros die entsprechende bewegung aller
ihren fanatismus beherrschenden vaterlandsfreunde. aber sowol unter
den 30 wie in ihrem rate sassen doch eine grössere anzahl von an-
hängern der patrios politeia, und sie wiederholten unter ungünstigeren
verhältnissen das spiel von 411, um es zu verlieren, zuerst an die herren
der situation, die tyrannen, dann an den demos: so kamen sie zwischen
zwei feuer und haben definitiv alle bedeutung verloren. die partei hat
403 nicht überlebt: schon deshalb muss die darstellung des Aristoteles,
der ihre ideen durchaus billigt, aus ihrem eignen kreise stammen.

Wo er von der beurteilung der grossen demagogen zu der dar-
stellung der letzten jahre des Reiches übergeht, tut er das mit dem
lobe des Theramenes und gibt das urteil ab, dass eine nicht oberfläch-
liche betrachtung in diesem den letzten guten staatsmann anerkennen
müsse. er knüpft also an diesen namen die würdigung der oligarchi-
schen politik, der er sich auch in der beurteilung der vorzeit an-
geschlossen hat, mit ausnahme Solons: da stand ihm in den gedichten
ein sicheres correctiv zu gebote; da scheut er sich auch nicht die be-
schuldigung der geflissentlichen böswilligkeit gegen seine quelle aus-
zusprechen, der er doch alle böswilligkeiten gegen Perikles und Kimon
nachspricht -- doch das ist vielleicht zu viel gesagt: wir können ja
nicht wissen, wie viel schlimmeres er unterdrückt hat. immerhin hat
er sich genug blasphemieen angeeignet. wenn er selbst die tätigkeit
und die person des Theramenes so sehr hervorhebt, wenn es offen zu

68) Damit soll keineswegs gesagt sein, dass die revolution hätte gelingen können.
sie rechnete ja nicht mit der demokratie, die allein den Reichsgedanken geschaffen
und erhalten hatte und jetzt heer und flotte allein belebte. in der kleinstadt Athen
war die oligarchie möglich und verständig. aber wer nicht auf Solon Kleisthenes
Aristeides Perikles verzichten wollte, der musste gegen Theramenes sein. ausserdem
hatten die oligarchen nur zum teil mit Alkibiades fühlung, und dessen person war
für sich allein im stande, jede regierung in Athen, die sich ihm nicht fügte, zu
stürzen. auch so weit sie wolmeinende vaterlandsfreunde waren, kann diesen
reactionären der vorwurf nicht erspart bleiben, so unmögliches gewollt zu haben
wie Lykurgos und seine leute nach 338 oder die ehrlichen royalisten unter
Ludwig XVIII.

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
nomotheten die zahl von 400 für den rat als κατὰ τὰ πάτϱια. der
verfasser der parteischrift hat in der verfassung Drakons dem schlag-
worte einen concreten inhalt gegeben, und es unterliegt keinem zweifel,
daſs sie es gewesen ist, die auch jenen nomotheten von 411 zum muster
gedient hat. damals haben erst die ausschreitungen der ultras die un-
leugbar in der stadt vorhandenen sympathien für die neue ordnung ver-
scherzt. 68) 404 verhinderte Lysandros die entsprechende bewegung aller
ihren fanatismus beherrschenden vaterlandsfreunde. aber sowol unter
den 30 wie in ihrem rate saſsen doch eine gröſsere anzahl von an-
hängern der πάτϱιος πολιτεία, und sie wiederholten unter ungünstigeren
verhältnissen das spiel von 411, um es zu verlieren, zuerst an die herren
der situation, die tyrannen, dann an den demos: so kamen sie zwischen
zwei feuer und haben definitiv alle bedeutung verloren. die partei hat
403 nicht überlebt: schon deshalb muſs die darstellung des Aristoteles,
der ihre ideen durchaus billigt, aus ihrem eignen kreise stammen.

Wo er von der beurteilung der groſsen demagogen zu der dar-
stellung der letzten jahre des Reiches übergeht, tut er das mit dem
lobe des Theramenes und gibt das urteil ab, daſs eine nicht oberfläch-
liche betrachtung in diesem den letzten guten staatsmann anerkennen
müsse. er knüpft also an diesen namen die würdigung der oligarchi-
schen politik, der er sich auch in der beurteilung der vorzeit an-
geschlossen hat, mit ausnahme Solons: da stand ihm in den gedichten
ein sicheres correctiv zu gebote; da scheut er sich auch nicht die be-
schuldigung der geflissentlichen böswilligkeit gegen seine quelle aus-
zusprechen, der er doch alle böswilligkeiten gegen Perikles und Kimon
nachspricht — doch das ist vielleicht zu viel gesagt: wir können ja
nicht wissen, wie viel schlimmeres er unterdrückt hat. immerhin hat
er sich genug blasphemieen angeeignet. wenn er selbst die tätigkeit
und die person des Theramenes so sehr hervorhebt, wenn es offen zu

68) Damit soll keineswegs gesagt sein, daſs die revolution hätte gelingen können.
sie rechnete ja nicht mit der demokratie, die allein den Reichsgedanken geschaffen
und erhalten hatte und jetzt heer und flotte allein belebte. in der kleinstadt Athen
war die oligarchie möglich und verständig. aber wer nicht auf Solon Kleisthenes
Aristeides Perikles verzichten wollte, der muſste gegen Theramenes sein. auſserdem
hatten die oligarchen nur zum teil mit Alkibiades fühlung, und dessen person war
für sich allein im stande, jede regierung in Athen, die sich ihm nicht fügte, zu
stürzen. auch so weit sie wolmeinende vaterlandsfreunde waren, kann diesen
reactionären der vorwurf nicht erspart bleiben, so unmögliches gewollt zu haben
wie Lykurgos und seine leute nach 338 oder die ehrlichen royalisten unter
Ludwig XVIII.
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[164/0178] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. nomotheten die zahl von 400 für den rat als κατὰ τὰ πάτϱια. der verfasser der parteischrift hat in der verfassung Drakons dem schlag- worte einen concreten inhalt gegeben, und es unterliegt keinem zweifel, daſs sie es gewesen ist, die auch jenen nomotheten von 411 zum muster gedient hat. damals haben erst die ausschreitungen der ultras die un- leugbar in der stadt vorhandenen sympathien für die neue ordnung ver- scherzt. 68) 404 verhinderte Lysandros die entsprechende bewegung aller ihren fanatismus beherrschenden vaterlandsfreunde. aber sowol unter den 30 wie in ihrem rate saſsen doch eine gröſsere anzahl von an- hängern der πάτϱιος πολιτεία, und sie wiederholten unter ungünstigeren verhältnissen das spiel von 411, um es zu verlieren, zuerst an die herren der situation, die tyrannen, dann an den demos: so kamen sie zwischen zwei feuer und haben definitiv alle bedeutung verloren. die partei hat 403 nicht überlebt: schon deshalb muſs die darstellung des Aristoteles, der ihre ideen durchaus billigt, aus ihrem eignen kreise stammen. Wo er von der beurteilung der groſsen demagogen zu der dar- stellung der letzten jahre des Reiches übergeht, tut er das mit dem lobe des Theramenes und gibt das urteil ab, daſs eine nicht oberfläch- liche betrachtung in diesem den letzten guten staatsmann anerkennen müsse. er knüpft also an diesen namen die würdigung der oligarchi- schen politik, der er sich auch in der beurteilung der vorzeit an- geschlossen hat, mit ausnahme Solons: da stand ihm in den gedichten ein sicheres correctiv zu gebote; da scheut er sich auch nicht die be- schuldigung der geflissentlichen böswilligkeit gegen seine quelle aus- zusprechen, der er doch alle böswilligkeiten gegen Perikles und Kimon nachspricht — doch das ist vielleicht zu viel gesagt: wir können ja nicht wissen, wie viel schlimmeres er unterdrückt hat. immerhin hat er sich genug blasphemieen angeeignet. wenn er selbst die tätigkeit und die person des Theramenes so sehr hervorhebt, wenn es offen zu 68) Damit soll keineswegs gesagt sein, daſs die revolution hätte gelingen können. sie rechnete ja nicht mit der demokratie, die allein den Reichsgedanken geschaffen und erhalten hatte und jetzt heer und flotte allein belebte. in der kleinstadt Athen war die oligarchie möglich und verständig. aber wer nicht auf Solon Kleisthenes Aristeides Perikles verzichten wollte, der muſste gegen Theramenes sein. auſserdem hatten die oligarchen nur zum teil mit Alkibiades fühlung, und dessen person war für sich allein im stande, jede regierung in Athen, die sich ihm nicht fügte, zu stürzen. auch so weit sie wolmeinende vaterlandsfreunde waren, kann diesen reactionären der vorwurf nicht erspart bleiben, so unmögliches gewollt zu haben wie Lykurgos und seine leute nach 338 oder die ehrlichen royalisten unter Ludwig XVIII.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/178>, abgerufen am 19.04.2024.