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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
mit einer solchen schöpfung wie mit einem gedichte: da kommen die
regeln der poetik auch erst nach dem poem, in dem sie erfüllt sind.
erwachsen ist das Reich. mit den politischen concreten aufgaben haben
sich ihre lösungen eingestellt, und damit wieder ist der politische ge-
danke immer klarer dem volke zum bewusstsein gekommen, das durch
ihn lebte und herrschte. niemand hat diesen gedanken ausgeheckt, es
sei denn das volk, und auch das nicht auf einmal und nicht als ein pro-
gramm. politische programme haben das allesammt an sich, dass sie sich
nicht verwirklichen, sie seien denn nach dem erfolge in die vergangen-
heit zurückprojicirt. auch dieser plan des Aristeides hat nur die realität
der reden des Agrippa und Maecenas über den principat bei Dion.

Es ist ganz besonders schwer, aber auch ganz besonders nötig, dass
der historiker sich in die situation der vergangenheit so zurückversetze,
dass er von dem absieht, was damals zukunft war. wie lag es 479 im
herbst? frei war nur Hellas bis zu den Thermopylen und die Perser-
flotte war fürs erste aus dem aegeischen meere vertrieben. angriffe waren
nicht zu erwarten, aber der anschluss der grossen inseln Lesbos, Chios,
Samos an den Hellenenbund forderte auch von Sparta, so wenig man
dort noch ein eignes interesse zu verteidigen hatte, einige weitere actionen.
Xanthippos wagte mehr, er segelte nach dem Hellespont und nahm Sestos.
dem Perser die verbindung mit seinen europäischen besitzungen bedrohen,
das hiess, diese ihm abnehmen wollen. gewiss war das nötig, wenn man
Asiens küstenstädte frei erhalten wollte, was Sparta vergeblich dem drängen
Athens abzustreiten versuchte. wenn die attische bürgerschaft auf den
wegen des Xanthippos wandeln wollte, so hiess das zweierlei, fortsetzung
des krieges, bis Europa frei wäre, und überwindung des peloponnesischen
widerstrebens, das man vom frühjahr her kannte. auch gegen Sparta
musste man sich rüsten. die heimkehrenden bürger mochten sich der
gefahr nicht aussetzen, die stadt wieder räumen zu müssen; die an-
geknüpften asiatischen beziehungen forderten den ausbau der flotte: so
zwang der moment zu der ummauerung der stadt und des hafens. an
die langen mauern, die nautike akosmia, die vernachlässigung des atti-
schen landes hat damals niemand gedacht, und doch führt eine völlig
geradlinige entwickelung zu all dem, was später die gnorimoi schelten
und beklagen. an die wirtschaftlichen folgen hat man natürlich schon
gedacht, und das konnte man mit viel grösserer sicherheit. denn eine
industriestadt war Athen seit Peisistratos, und dass es sich auf den Ky-
kladen, an den meerengen und mündungen der thrakischen flüsse fest-
setzen müsste, um die nordischen rohproducte einzuführen, seine in-

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
mit einer solchen schöpfung wie mit einem gedichte: da kommen die
regeln der poetik auch erst nach dem poem, in dem sie erfüllt sind.
erwachsen ist das Reich. mit den politischen concreten aufgaben haben
sich ihre lösungen eingestellt, und damit wieder ist der politische ge-
danke immer klarer dem volke zum bewuſstsein gekommen, das durch
ihn lebte und herrschte. niemand hat diesen gedanken ausgeheckt, es
sei denn das volk, und auch das nicht auf einmal und nicht als ein pro-
gramm. politische programme haben das allesammt an sich, daſs sie sich
nicht verwirklichen, sie seien denn nach dem erfolge in die vergangen-
heit zurückprojicirt. auch dieser plan des Aristeides hat nur die realität
der reden des Agrippa und Maecenas über den principat bei Dion.

Es ist ganz besonders schwer, aber auch ganz besonders nötig, daſs
der historiker sich in die situation der vergangenheit so zurückversetze,
daſs er von dem absieht, was damals zukunft war. wie lag es 479 im
herbst? frei war nur Hellas bis zu den Thermopylen und die Perser-
flotte war fürs erste aus dem aegeischen meere vertrieben. angriffe waren
nicht zu erwarten, aber der anschluſs der groſsen inseln Lesbos, Chios,
Samos an den Hellenenbund forderte auch von Sparta, so wenig man
dort noch ein eignes interesse zu verteidigen hatte, einige weitere actionen.
Xanthippos wagte mehr, er segelte nach dem Hellespont und nahm Sestos.
dem Perser die verbindung mit seinen europäischen besitzungen bedrohen,
das hieſs, diese ihm abnehmen wollen. gewiſs war das nötig, wenn man
Asiens küstenstädte frei erhalten wollte, was Sparta vergeblich dem drängen
Athens abzustreiten versuchte. wenn die attische bürgerschaft auf den
wegen des Xanthippos wandeln wollte, so hieſs das zweierlei, fortsetzung
des krieges, bis Europa frei wäre, und überwindung des peloponnesischen
widerstrebens, das man vom frühjahr her kannte. auch gegen Sparta
muſste man sich rüsten. die heimkehrenden bürger mochten sich der
gefahr nicht aussetzen, die stadt wieder räumen zu müssen; die an-
geknüpften asiatischen beziehungen forderten den ausbau der flotte: so
zwang der moment zu der ummauerung der stadt und des hafens. an
die langen mauern, die ναυτικὴ ἀκοσμία, die vernachlässigung des atti-
schen landes hat damals niemand gedacht, und doch führt eine völlig
geradlinige entwickelung zu all dem, was später die γνώϱιμοι schelten
und beklagen. an die wirtschaftlichen folgen hat man natürlich schon
gedacht, und das konnte man mit viel gröſserer sicherheit. denn eine
industriestadt war Athen seit Peisistratos, und daſs es sich auf den Ky-
kladen, an den meerengen und mündungen der thrakischen flüsse fest-
setzen müſste, um die nordischen rohproducte einzuführen, seine in-

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[154/0168] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. mit einer solchen schöpfung wie mit einem gedichte: da kommen die regeln der poetik auch erst nach dem poem, in dem sie erfüllt sind. erwachsen ist das Reich. mit den politischen concreten aufgaben haben sich ihre lösungen eingestellt, und damit wieder ist der politische ge- danke immer klarer dem volke zum bewuſstsein gekommen, das durch ihn lebte und herrschte. niemand hat diesen gedanken ausgeheckt, es sei denn das volk, und auch das nicht auf einmal und nicht als ein pro- gramm. politische programme haben das allesammt an sich, daſs sie sich nicht verwirklichen, sie seien denn nach dem erfolge in die vergangen- heit zurückprojicirt. auch dieser plan des Aristeides hat nur die realität der reden des Agrippa und Maecenas über den principat bei Dion. Es ist ganz besonders schwer, aber auch ganz besonders nötig, daſs der historiker sich in die situation der vergangenheit so zurückversetze, daſs er von dem absieht, was damals zukunft war. wie lag es 479 im herbst? frei war nur Hellas bis zu den Thermopylen und die Perser- flotte war fürs erste aus dem aegeischen meere vertrieben. angriffe waren nicht zu erwarten, aber der anschluſs der groſsen inseln Lesbos, Chios, Samos an den Hellenenbund forderte auch von Sparta, so wenig man dort noch ein eignes interesse zu verteidigen hatte, einige weitere actionen. Xanthippos wagte mehr, er segelte nach dem Hellespont und nahm Sestos. dem Perser die verbindung mit seinen europäischen besitzungen bedrohen, das hieſs, diese ihm abnehmen wollen. gewiſs war das nötig, wenn man Asiens küstenstädte frei erhalten wollte, was Sparta vergeblich dem drängen Athens abzustreiten versuchte. wenn die attische bürgerschaft auf den wegen des Xanthippos wandeln wollte, so hieſs das zweierlei, fortsetzung des krieges, bis Europa frei wäre, und überwindung des peloponnesischen widerstrebens, das man vom frühjahr her kannte. auch gegen Sparta muſste man sich rüsten. die heimkehrenden bürger mochten sich der gefahr nicht aussetzen, die stadt wieder räumen zu müssen; die an- geknüpften asiatischen beziehungen forderten den ausbau der flotte: so zwang der moment zu der ummauerung der stadt und des hafens. an die langen mauern, die ναυτικὴ ἀκοσμία, die vernachlässigung des atti- schen landes hat damals niemand gedacht, und doch führt eine völlig geradlinige entwickelung zu all dem, was später die γνώϱιμοι schelten und beklagen. an die wirtschaftlichen folgen hat man natürlich schon gedacht, und das konnte man mit viel gröſserer sicherheit. denn eine industriestadt war Athen seit Peisistratos, und daſs es sich auf den Ky- kladen, an den meerengen und mündungen der thrakischen flüsse fest- setzen müſste, um die nordischen rohproducte einzuführen, seine in-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/168>, abgerufen am 20.04.2024.