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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die geschichte des Themistokles.
hat sich von 479 bis 470 nicht viel geändert, Thukydides aber steht der
zeit beträchtlich ferner als Herodotos. ich bin an dem glauben irre ge-
worden, weil die scene am hofe des Admetos ein altes sagenmotiv auf
neue personen überträgt: das ist Telephos in Argos. ich bezweifle
durchaus nicht, dass Thukydides ziemlich so getreu wie Herodotos erzählt
was er gehört hat, aber er konnte die sage gar nicht von der geschichte
sondern, und dass der schüler der sophisten zu zeiten sich auch ohne
berechtigung das air gibt, über die volle wahrheit zu verfügen, ist un-
bestreitbar; die ermordung des Hipparchos hat dafür ein lehrreiches bei-
spiel geliefert.

Es ist und bleibt also eine offene frage, ob die geschichten bei
Thukydides mehr wert sind als die von Nikogenes von Aigai, von Lysi-
theides u. dgl. bei anderen schriftstellern. das geht aber doch nur eine
anzahl einzelner züge an 50): wie Thukydides mit der verwerfung des
selbstmordes recht hat, so wird man ihm die hauptsache, dass Themi-
stokles erst an den hof des Artaxerxes gekommen ist, glauben, um
so mehr, da Charon von Lampsakos dies auch erzählt hat, und das ver-
hilft uns wol dazu, seine quelle zu erschliessen. ich würde es für über-
eilt halten, wollte man sie in der lampsakenischen chronik Charons
suchen; weder würde Thukydides einem buche so viel nacherzählt haben,
noch würden die, welche die übereinstimmung beider in einem detail
berichten, verschwiegen haben, dass sie durchweg stimmten. aber ge-
meinsame lampsakenische überlieferung scheint mir vorzuliegen. denn
das epigramm eines lampsakenischen grabsteines führt Thukydides in seiner
Peisistratidengeschichte an 51), und Lampsakos war ja dem Themistokles
vom grosskönig geschenkt 52); es ist ihm dort später ein heroisches fest

50) Ich bezweifle gar nicht, dass er von Korkyra aus zu lande an die ostküste
irgendwie gelangt ist; Pydna als station ist sehr wahrscheinlich; und dass er dann
irgend wie das meer gekreuzt hat. und in den städten Asiens, mochten sie auch
zum Reiche gehören, konnte er sich wol verborgen halten. es kann auch mehr
wahr sein: nur vermögen wir es nicht als wahr zu erkennen.
51) 6, 59. offenbar kannte er mehr über die tyrannen von Lampsakos als bloss
das epigramm, und dies ist nicht aus den famosen 'kleinen schriften', die Simonides
edirt haben soll, in den Thukydides gekommen, sondern aus dem Thukydides in die
späteren sammlungen von epigrammen unter Simonides namen. man schrieb es ihm
zu, weil er für die Peisistratiden gedichtet hatte. das schien damals probabel und
kann es heute scheinen. aber es war und ist eine vermutung.
52) Dass ihm noch mehr orte in der daskylitischen satrapie zugewiesen waren
als Thukydides nennt, ist sehr wol möglich, und ich glaube es gern; aber die zeugen
dafür können uns sicherheit auch nicht geben. Athen. I 29 f., bei Kaibel erst lesbar.

Die geschichte des Themistokles.
hat sich von 479 bis 470 nicht viel geändert, Thukydides aber steht der
zeit beträchtlich ferner als Herodotos. ich bin an dem glauben irre ge-
worden, weil die scene am hofe des Admetos ein altes sagenmotiv auf
neue personen überträgt: das ist Telephos in Argos. ich bezweifle
durchaus nicht, daſs Thukydides ziemlich so getreu wie Herodotos erzählt
was er gehört hat, aber er konnte die sage gar nicht von der geschichte
sondern, und daſs der schüler der sophisten zu zeiten sich auch ohne
berechtigung das air gibt, über die volle wahrheit zu verfügen, ist un-
bestreitbar; die ermordung des Hipparchos hat dafür ein lehrreiches bei-
spiel geliefert.

Es ist und bleibt also eine offene frage, ob die geschichten bei
Thukydides mehr wert sind als die von Nikogenes von Aigai, von Lysi-
theides u. dgl. bei anderen schriftstellern. das geht aber doch nur eine
anzahl einzelner züge an 50): wie Thukydides mit der verwerfung des
selbstmordes recht hat, so wird man ihm die hauptsache, daſs Themi-
stokles erst an den hof des Artaxerxes gekommen ist, glauben, um
so mehr, da Charon von Lampsakos dies auch erzählt hat, und das ver-
hilft uns wol dazu, seine quelle zu erschlieſsen. ich würde es für über-
eilt halten, wollte man sie in der lampsakenischen chronik Charons
suchen; weder würde Thukydides einem buche so viel nacherzählt haben,
noch würden die, welche die übereinstimmung beider in einem detail
berichten, verschwiegen haben, daſs sie durchweg stimmten. aber ge-
meinsame lampsakenische überlieferung scheint mir vorzuliegen. denn
das epigramm eines lampsakenischen grabsteines führt Thukydides in seiner
Peisistratidengeschichte an 51), und Lampsakos war ja dem Themistokles
vom groſskönig geschenkt 52); es ist ihm dort später ein heroisches fest

50) Ich bezweifle gar nicht, daſs er von Korkyra aus zu lande an die ostküste
irgendwie gelangt ist; Pydna als station ist sehr wahrscheinlich; und daſs er dann
irgend wie das meer gekreuzt hat. und in den städten Asiens, mochten sie auch
zum Reiche gehören, konnte er sich wol verborgen halten. es kann auch mehr
wahr sein: nur vermögen wir es nicht als wahr zu erkennen.
51) 6, 59. offenbar kannte er mehr über die tyrannen von Lampsakos als bloſs
das epigramm, und dies ist nicht aus den famosen ‘kleinen schriften’, die Simonides
edirt haben soll, in den Thukydides gekommen, sondern aus dem Thukydides in die
späteren sammlungen von epigrammen unter Simonides namen. man schrieb es ihm
zu, weil er für die Peisistratiden gedichtet hatte. das schien damals probabel und
kann es heute scheinen. aber es war und ist eine vermutung.
52) Daſs ihm noch mehr orte in der daskylitischen satrapie zugewiesen waren
als Thukydides nennt, ist sehr wol möglich, und ich glaube es gern; aber die zeugen
dafür können uns sicherheit auch nicht geben. Athen. I 29 f., bei Kaibel erst lesbar.
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[151/0165] Die geschichte des Themistokles. hat sich von 479 bis 470 nicht viel geändert, Thukydides aber steht der zeit beträchtlich ferner als Herodotos. ich bin an dem glauben irre ge- worden, weil die scene am hofe des Admetos ein altes sagenmotiv auf neue personen überträgt: das ist Telephos in Argos. ich bezweifle durchaus nicht, daſs Thukydides ziemlich so getreu wie Herodotos erzählt was er gehört hat, aber er konnte die sage gar nicht von der geschichte sondern, und daſs der schüler der sophisten zu zeiten sich auch ohne berechtigung das air gibt, über die volle wahrheit zu verfügen, ist un- bestreitbar; die ermordung des Hipparchos hat dafür ein lehrreiches bei- spiel geliefert. Es ist und bleibt also eine offene frage, ob die geschichten bei Thukydides mehr wert sind als die von Nikogenes von Aigai, von Lysi- theides u. dgl. bei anderen schriftstellern. das geht aber doch nur eine anzahl einzelner züge an 50): wie Thukydides mit der verwerfung des selbstmordes recht hat, so wird man ihm die hauptsache, daſs Themi- stokles erst an den hof des Artaxerxes gekommen ist, glauben, um so mehr, da Charon von Lampsakos dies auch erzählt hat, und das ver- hilft uns wol dazu, seine quelle zu erschlieſsen. ich würde es für über- eilt halten, wollte man sie in der lampsakenischen chronik Charons suchen; weder würde Thukydides einem buche so viel nacherzählt haben, noch würden die, welche die übereinstimmung beider in einem detail berichten, verschwiegen haben, daſs sie durchweg stimmten. aber ge- meinsame lampsakenische überlieferung scheint mir vorzuliegen. denn das epigramm eines lampsakenischen grabsteines führt Thukydides in seiner Peisistratidengeschichte an 51), und Lampsakos war ja dem Themistokles vom groſskönig geschenkt 52); es ist ihm dort später ein heroisches fest 50) Ich bezweifle gar nicht, daſs er von Korkyra aus zu lande an die ostküste irgendwie gelangt ist; Pydna als station ist sehr wahrscheinlich; und daſs er dann irgend wie das meer gekreuzt hat. und in den städten Asiens, mochten sie auch zum Reiche gehören, konnte er sich wol verborgen halten. es kann auch mehr wahr sein: nur vermögen wir es nicht als wahr zu erkennen. 51) 6, 59. offenbar kannte er mehr über die tyrannen von Lampsakos als bloſs das epigramm, und dies ist nicht aus den famosen ‘kleinen schriften’, die Simonides edirt haben soll, in den Thukydides gekommen, sondern aus dem Thukydides in die späteren sammlungen von epigrammen unter Simonides namen. man schrieb es ihm zu, weil er für die Peisistratiden gedichtet hatte. das schien damals probabel und kann es heute scheinen. aber es war und ist eine vermutung. 52) Daſs ihm noch mehr orte in der daskylitischen satrapie zugewiesen waren als Thukydides nennt, ist sehr wol möglich, und ich glaube es gern; aber die zeugen dafür können uns sicherheit auch nicht geben. Athen. I 29 f., bei Kaibel erst lesbar.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/165>, abgerufen am 19.04.2024.