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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
mistokles soll beinahe dem heere, das Naxos belagerte, in die hände ge-
fallen sein (I 137). diese belagerung ist von der eroberung von Skyros,
also frühjahr 475, nur durch die von Karystos getrennt, und muss bald
auf sie gefolgt sein; erst längere zeit danach folgt die schlacht am
Eurymedon, die doch noch unter Xerxes fällt. man wird gern zugeben,
dass Naxos 471 oder 470 erobert ist, als man auf Themistokles fahndete,
wird gern glauben, dass die belagernden wähnten, ein schiff, das sie auf
der see laviren sahen und das ihnen mit mühe auswich, hätte den hoch-
verräter an bord gehabt. allein mit der thukydideischen chronologie
streitet dieser zug unbedingt. es ist sehr merkwürdig, dass man ihn
schon im altertum zu beseitigen versucht hat. bei Plutarch fährt
Themistokles von Pydna über Thasos47) nach Kyme. es handelt sich also
nicht um eine buchstabenänderung im Thukydidestext, wo ihn offenbar
der nordwind verschlägt, denn er geht von Pydna über Naxos nach Ephesos;
aber es ist doch eine correctur an der erzählung des Thukydides, be-
stimmt, sie mit der chronologie in einklang zu bringen. denn die be-
lagerung von Thasos 465--63 passt allerdings zu der ankunft am hofe
des Artaxerxes. leider wird dadurch die leere reihe von jahren seit der
flucht nur verlängert: so lässt sich der schaden nicht heilen.

Ich habe mich schon seit mehr als zehn jahren48) verwundert, wie
sehr den modernen das etikett über den inhalt der flasche geht. was
im Herodotos steht, auch die ganze geschichte von 479, betrachten sie
als eine mehr oder minder sagenhafte tradition, obwol der erzähler der
zeit sehr nahe steht und an auffassungsvermögen und wahrheitsliebe un-
übertroffen ist. aber die geschichte vom edlen könig Admetos, dem
biedern schiffsherrn u. s. w. einschliesslich des briefes, den Themistokles
an Artaxerxes schreibt49), halten sie für so wahr wie die leitartikel ihrer
lieblingszeitung, weil Thukydides diese geschichten erzählt. und doch

47) Them. 25. die ächte lesart hat nur die handschrift von Seitenstetten er-
halten, in den andern haben die Byzantiner Naxos aus Thukydides eingesehwärzt,
das den ganzen zusammenhang verdirbt.
48) Wenn ein vorlauter allerweltsrecensent sich wieder über diese meine
datirung meiner eigenen gedanken aufzuhalten neigung haben sollte, so habe er seinen
spass. es gibt immer auf erden leute die mehr wissen als sie drucken lassen und
leute die mehr drucken lassen als sie wissen. und raum für alle hat die erde.
49) Den brief hat wenigstene Nöldeke (Gesch. Irans 50) als fiction bezeichnet,
während er mit recht die correspondenz des Pausanias als ächt ansieht. diese
war eben bei Pausanias aufgefunden. stilisirt hat aber Thukydides auch den brief
des Xerxes an Pausanias. er hat so viel realität wie der des Nikias: der Themi-
stoklesbrief ist freie fiction wie die meisten reden.

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
mistokles soll beinahe dem heere, das Naxos belagerte, in die hände ge-
fallen sein (I 137). diese belagerung ist von der eroberung von Skyros,
also frühjahr 475, nur durch die von Karystos getrennt, und muſs bald
auf sie gefolgt sein; erst längere zeit danach folgt die schlacht am
Eurymedon, die doch noch unter Xerxes fällt. man wird gern zugeben,
daſs Naxos 471 oder 470 erobert ist, als man auf Themistokles fahndete,
wird gern glauben, daſs die belagernden wähnten, ein schiff, das sie auf
der see laviren sahen und das ihnen mit mühe auswich, hätte den hoch-
verräter an bord gehabt. allein mit der thukydideischen chronologie
streitet dieser zug unbedingt. es ist sehr merkwürdig, daſs man ihn
schon im altertum zu beseitigen versucht hat. bei Plutarch fährt
Themistokles von Pydna über Thasos47) nach Kyme. es handelt sich also
nicht um eine buchstabenänderung im Thukydidestext, wo ihn offenbar
der nordwind verschlägt, denn er geht von Pydna über Naxos nach Ephesos;
aber es ist doch eine correctur an der erzählung des Thukydides, be-
stimmt, sie mit der chronologie in einklang zu bringen. denn die be-
lagerung von Thasos 465—63 paſst allerdings zu der ankunft am hofe
des Artaxerxes. leider wird dadurch die leere reihe von jahren seit der
flucht nur verlängert: so läſst sich der schaden nicht heilen.

Ich habe mich schon seit mehr als zehn jahren48) verwundert, wie
sehr den modernen das etikett über den inhalt der flasche geht. was
im Herodotos steht, auch die ganze geschichte von 479, betrachten sie
als eine mehr oder minder sagenhafte tradition, obwol der erzähler der
zeit sehr nahe steht und an auffassungsvermögen und wahrheitsliebe un-
übertroffen ist. aber die geschichte vom edlen könig Admetos, dem
biedern schiffsherrn u. s. w. einschlieſslich des briefes, den Themistokles
an Artaxerxes schreibt49), halten sie für so wahr wie die leitartikel ihrer
lieblingszeitung, weil Thukydides diese geschichten erzählt. und doch

47) Them. 25. die ächte lesart hat nur die handschrift von Seitenstetten er-
halten, in den andern haben die Byzantiner Naxos aus Thukydides eingesehwärzt,
das den ganzen zusammenhang verdirbt.
48) Wenn ein vorlauter allerweltsrecensent sich wieder über diese meine
datirung meiner eigenen gedanken aufzuhalten neigung haben sollte, so habe er seinen
spaſs. es gibt immer auf erden leute die mehr wissen als sie drucken lassen und
leute die mehr drucken lassen als sie wissen. und raum für alle hat die erde.
49) Den brief hat wenigstene Nöldeke (Gesch. Irans 50) als fiction bezeichnet,
während er mit recht die correspondenz des Pausanias als ächt ansieht. diese
war eben bei Pausanias aufgefunden. stilisirt hat aber Thukydides auch den brief
des Xerxes an Pausanias. er hat so viel realität wie der des Nikias: der Themi-
stoklesbrief ist freie fiction wie die meisten reden.
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[150/0164] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. mistokles soll beinahe dem heere, das Naxos belagerte, in die hände ge- fallen sein (I 137). diese belagerung ist von der eroberung von Skyros, also frühjahr 475, nur durch die von Karystos getrennt, und muſs bald auf sie gefolgt sein; erst längere zeit danach folgt die schlacht am Eurymedon, die doch noch unter Xerxes fällt. man wird gern zugeben, daſs Naxos 471 oder 470 erobert ist, als man auf Themistokles fahndete, wird gern glauben, daſs die belagernden wähnten, ein schiff, das sie auf der see laviren sahen und das ihnen mit mühe auswich, hätte den hoch- verräter an bord gehabt. allein mit der thukydideischen chronologie streitet dieser zug unbedingt. es ist sehr merkwürdig, daſs man ihn schon im altertum zu beseitigen versucht hat. bei Plutarch fährt Themistokles von Pydna über Thasos 47) nach Kyme. es handelt sich also nicht um eine buchstabenänderung im Thukydidestext, wo ihn offenbar der nordwind verschlägt, denn er geht von Pydna über Naxos nach Ephesos; aber es ist doch eine correctur an der erzählung des Thukydides, be- stimmt, sie mit der chronologie in einklang zu bringen. denn die be- lagerung von Thasos 465—63 paſst allerdings zu der ankunft am hofe des Artaxerxes. leider wird dadurch die leere reihe von jahren seit der flucht nur verlängert: so läſst sich der schaden nicht heilen. Ich habe mich schon seit mehr als zehn jahren 48) verwundert, wie sehr den modernen das etikett über den inhalt der flasche geht. was im Herodotos steht, auch die ganze geschichte von 479, betrachten sie als eine mehr oder minder sagenhafte tradition, obwol der erzähler der zeit sehr nahe steht und an auffassungsvermögen und wahrheitsliebe un- übertroffen ist. aber die geschichte vom edlen könig Admetos, dem biedern schiffsherrn u. s. w. einschlieſslich des briefes, den Themistokles an Artaxerxes schreibt 49), halten sie für so wahr wie die leitartikel ihrer lieblingszeitung, weil Thukydides diese geschichten erzählt. und doch 47) Them. 25. die ächte lesart hat nur die handschrift von Seitenstetten er- halten, in den andern haben die Byzantiner Naxos aus Thukydides eingesehwärzt, das den ganzen zusammenhang verdirbt. 48) Wenn ein vorlauter allerweltsrecensent sich wieder über diese meine datirung meiner eigenen gedanken aufzuhalten neigung haben sollte, so habe er seinen spaſs. es gibt immer auf erden leute die mehr wissen als sie drucken lassen und leute die mehr drucken lassen als sie wissen. und raum für alle hat die erde. 49) Den brief hat wenigstene Nöldeke (Gesch. Irans 50) als fiction bezeichnet, während er mit recht die correspondenz des Pausanias als ächt ansieht. diese war eben bei Pausanias aufgefunden. stilisirt hat aber Thukydides auch den brief des Xerxes an Pausanias. er hat so viel realität wie der des Nikias: der Themi- stoklesbrief ist freie fiction wie die meisten reden.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/164>, abgerufen am 28.03.2024.