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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die geschichte des Themistokles.
fechten. das glaubten die Athener schon, als Perikles starb. jeder der
die zeiten genug kannte, um zu wissen, dass die flucht fünf jahre vor
dem tode des Xerxes stattgefunden hatte, und dass Xerxes der letzte ge-
wesen war, der einen zug gegen Hellas unternommen hatte, konnte gar
nicht anders als Themistokles zu Xerxes kommen lassen. das ist sogar
die verbreitete ansicht geblieben46); es war ja auch ungleich wirkungs-
voller. wer dagegen auch das wusste, das zwischen der flucht und der
belehnung mit Magnesia jahre lagen, der hatte eine leere zeit, in welcher
die alten fabeln bequem platz fanden und für jede neue raum blieb.
neben der verschönenden liebe schwieg auch der hass nicht. sowol dem
philosophischen staatsmanne, der Samos gegen Athen mit erfolg vertei-
digte, wie dem philosophischen freunde des Perikles hängten die feinde
hochverräterische schlechtigkeit an, indem sie erzählten, dass Themistokles
mit ihnen beziehungen unterhalten hätte. die oligarchen, die den er-
bauer des hafens und der flotte als stifter der verfluchten demokratie
betrachteten, mochten dem Ephialtes womöglich schon bei lebzeiten vor-
rücken, dass er gegen den Areopag nur als werkzeug des Themistokles sich
erhübe. endlich als der Perser wieder in Lampsakos und Myus gebot, der
hafen geschleift war und die demokratie sich mühselig vom tiefsten falle
erhob, trat ein ganz neuer bericht über die flucht des Themistokles mit
dem entschiedensten anspruch auf wahrheit hervor. was Thukydides er-
zählt, hat sich im altertum neben der legende behauptet; heut zu tage
glaubt man ihm blindlings. darf man das, und wenn man's darf, wo
hat Thukydides die wahrheit her?

Jahresangaben macht er nicht; aber er lässt den Themistokles zu
Artaxerxes kommen, der 464 den thron bestiegen hat: am kanon der
könige ist nichts zu deuteln. dass er die flucht anders als die andern
datirt hätte, ist nicht glaublich, da er sie durch den tod des Pausanias
bedingt werden lässt, den wir wesentlich auf grund seiner erzählung an-
setzen. das gibt also sieben leere jahre, und trotzdem muss jeder leser
annehmen, dass Themistokles auf umwegen, aber ohne längeren aufent-
halt von Argos nach Persien geflohen wäre. wer will es den Ephoros
und Dinon verdenken, wenn sie durch diesen leeren zeitraum mistrauisch
wurden? wie sollen wir es nicht werden, da Thukydides ihn entweder
nicht bemerkt oder verheimlicht hat? ja, es ist ein zug in der ge-
schichte, der sich mit seiner umgebung schlechthin nicht verträgt. The-

46) Für uns ist der Sokratiker Aischines der erste zeuge (Aristides pro IV
viris
II 293); aber Ephoros und Dinon haben natürlich nicht ohne scheinbare gewähr
aus älterer schriftstellerei dem Thukydides widersprochen.

Die geschichte des Themistokles.
fechten. das glaubten die Athener schon, als Perikles starb. jeder der
die zeiten genug kannte, um zu wissen, daſs die flucht fünf jahre vor
dem tode des Xerxes stattgefunden hatte, und daſs Xerxes der letzte ge-
wesen war, der einen zug gegen Hellas unternommen hatte, konnte gar
nicht anders als Themistokles zu Xerxes kommen lassen. das ist sogar
die verbreitete ansicht geblieben46); es war ja auch ungleich wirkungs-
voller. wer dagegen auch das wuſste, das zwischen der flucht und der
belehnung mit Magnesia jahre lagen, der hatte eine leere zeit, in welcher
die alten fabeln bequem platz fanden und für jede neue raum blieb.
neben der verschönenden liebe schwieg auch der haſs nicht. sowol dem
philosophischen staatsmanne, der Samos gegen Athen mit erfolg vertei-
digte, wie dem philosophischen freunde des Perikles hängten die feinde
hochverräterische schlechtigkeit an, indem sie erzählten, daſs Themistokles
mit ihnen beziehungen unterhalten hätte. die oligarchen, die den er-
bauer des hafens und der flotte als stifter der verfluchten demokratie
betrachteten, mochten dem Ephialtes womöglich schon bei lebzeiten vor-
rücken, daſs er gegen den Areopag nur als werkzeug des Themistokles sich
erhübe. endlich als der Perser wieder in Lampsakos und Myus gebot, der
hafen geschleift war und die demokratie sich mühselig vom tiefsten falle
erhob, trat ein ganz neuer bericht über die flucht des Themistokles mit
dem entschiedensten anspruch auf wahrheit hervor. was Thukydides er-
zählt, hat sich im altertum neben der legende behauptet; heut zu tage
glaubt man ihm blindlings. darf man das, und wenn man’s darf, wo
hat Thukydides die wahrheit her?

Jahresangaben macht er nicht; aber er läſst den Themistokles zu
Artaxerxes kommen, der 464 den thron bestiegen hat: am kanon der
könige ist nichts zu deuteln. daſs er die flucht anders als die andern
datirt hätte, ist nicht glaublich, da er sie durch den tod des Pausanias
bedingt werden läſst, den wir wesentlich auf grund seiner erzählung an-
setzen. das gibt also sieben leere jahre, und trotzdem muſs jeder leser
annehmen, daſs Themistokles auf umwegen, aber ohne längeren aufent-
halt von Argos nach Persien geflohen wäre. wer will es den Ephoros
und Dinon verdenken, wenn sie durch diesen leeren zeitraum mistrauisch
wurden? wie sollen wir es nicht werden, da Thukydides ihn entweder
nicht bemerkt oder verheimlicht hat? ja, es ist ein zug in der ge-
schichte, der sich mit seiner umgebung schlechthin nicht verträgt. The-

46) Für uns ist der Sokratiker Aischines der erste zeuge (Aristides pro IV
viris
II 293); aber Ephoros und Dinon haben natürlich nicht ohne scheinbare gewähr
aus älterer schriftstellerei dem Thukydides widersprochen.
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[149/0163] Die geschichte des Themistokles. fechten. das glaubten die Athener schon, als Perikles starb. jeder der die zeiten genug kannte, um zu wissen, daſs die flucht fünf jahre vor dem tode des Xerxes stattgefunden hatte, und daſs Xerxes der letzte ge- wesen war, der einen zug gegen Hellas unternommen hatte, konnte gar nicht anders als Themistokles zu Xerxes kommen lassen. das ist sogar die verbreitete ansicht geblieben 46); es war ja auch ungleich wirkungs- voller. wer dagegen auch das wuſste, das zwischen der flucht und der belehnung mit Magnesia jahre lagen, der hatte eine leere zeit, in welcher die alten fabeln bequem platz fanden und für jede neue raum blieb. neben der verschönenden liebe schwieg auch der haſs nicht. sowol dem philosophischen staatsmanne, der Samos gegen Athen mit erfolg vertei- digte, wie dem philosophischen freunde des Perikles hängten die feinde hochverräterische schlechtigkeit an, indem sie erzählten, daſs Themistokles mit ihnen beziehungen unterhalten hätte. die oligarchen, die den er- bauer des hafens und der flotte als stifter der verfluchten demokratie betrachteten, mochten dem Ephialtes womöglich schon bei lebzeiten vor- rücken, daſs er gegen den Areopag nur als werkzeug des Themistokles sich erhübe. endlich als der Perser wieder in Lampsakos und Myus gebot, der hafen geschleift war und die demokratie sich mühselig vom tiefsten falle erhob, trat ein ganz neuer bericht über die flucht des Themistokles mit dem entschiedensten anspruch auf wahrheit hervor. was Thukydides er- zählt, hat sich im altertum neben der legende behauptet; heut zu tage glaubt man ihm blindlings. darf man das, und wenn man’s darf, wo hat Thukydides die wahrheit her? Jahresangaben macht er nicht; aber er läſst den Themistokles zu Artaxerxes kommen, der 464 den thron bestiegen hat: am kanon der könige ist nichts zu deuteln. daſs er die flucht anders als die andern datirt hätte, ist nicht glaublich, da er sie durch den tod des Pausanias bedingt werden läſst, den wir wesentlich auf grund seiner erzählung an- setzen. das gibt also sieben leere jahre, und trotzdem muſs jeder leser annehmen, daſs Themistokles auf umwegen, aber ohne längeren aufent- halt von Argos nach Persien geflohen wäre. wer will es den Ephoros und Dinon verdenken, wenn sie durch diesen leeren zeitraum mistrauisch wurden? wie sollen wir es nicht werden, da Thukydides ihn entweder nicht bemerkt oder verheimlicht hat? ja, es ist ein zug in der ge- schichte, der sich mit seiner umgebung schlechthin nicht verträgt. The- 46) Für uns ist der Sokratiker Aischines der erste zeuge (Aristides pro IV viris II 293); aber Ephoros und Dinon haben natürlich nicht ohne scheinbare gewähr aus älterer schriftstellerei dem Thukydides widersprochen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/163>, abgerufen am 25.04.2024.