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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
ansicht von ihm an, die doch in wahrheit schon empedokleisch war,
wie wir denn wirklich nichts weder von productivem denken noch von
zielbewusstem handeln in Kritias finden können. wir werden nicht fehl
gehen, wenn wir hierin die nachwirkung der autorität Platons sehen,
der mit dem mute des reinen herzens, der ihn nie verlassen hat, und
der pietät des jüngeren verwandten, die wir achten dürfen, auch wo die
magis amica veritas uns zum widerspruche zwingt, das bild des geächteten
nicht nur hoch gehalten, sondern verklärt und mit dem schönsten seiner
poesie auf ewig verbunden hat. dass Aristoteles eine lobschrift auf Kritias
nicht als eine tolle spielerei, wie auf Buseiris und Thersites, sondern
als ein werk angesehen hat, das auf grund einer genauen kenntnis seiner
taten, also der geschichte der 30 und der schriften des Kritias wol
durchführbar wäre, gibt zu denken. er muss sich mit beiden beschäftigt
haben; für die geschichte lehrt das unser buch auch. aber der mann,
der eine lobrede auf Kritias für möglich hielt, hat die demokratie, nicht
bloss die des Kleophon, sondern auch die des Demosthenes notwendiger-
weise auf das schärfste verurteilt. das hätten wir uns längst sagen können.

Alkibiades.Noch viel merkwürdiger ist das fehlen des Alkibiades. Aristoteles
hat also den genialen menschen für die verfassungsgeschichte Athens
als bedeutungslos betrachtet. doch das konnte er kaum; denn wer den
sicilischen und den dekeleischen krieg entzündet hat, den abfall von Chios
bewirkt und Persien in die hellenischen verwickelungen hineingezogen, wer
die institution des ostrakismos unbrauchbar gemacht und durch die be-
seitigung des ventiles die explosionen des parteihasses herbeigeführt hat,
der ist, so weit es ein sterblicher sein kann, der demagoge der die
demokratie zerstört hat. alle diese dinge setzt Aristoteles viel mehr
voraus, als dass er sie erzählte. indessen das reicht zur erklärung nicht.
nur mit bestimmter absicht kann Alkibiades in dem berichte über die
revolution von 411 fehlen, ganz wie Phrynichos. folglich hat Aristoteles
den bedeutenden mann gleichsam wie einen kometen aus den kreisen,
in denen sich das system des athenischen staates bewegte, ausschliessen
zu dürfen geglaubt, und er hat es wol deshalb getan, weil er ihm
psychologisch so viel rätsel aufgab wie uns. mitgewirkt hat indessen
wol auch zweierlei. die oligarchische schrift, die wir sogleich näher
kennen lernen, hat Alkibiades, wenn sie überhaupt viel von ihm sagte,
mit dem rücksichtslosesten hasse angegriffen; eine probe haben wir in
der geschichte Solons kennen gelernt (s. 62). das verwarf Aristoteles,
weil er es durchschaute. dann aber kam auch hier die platonische
tradition in betracht. Platon hat diesen daemonischen menschen, viel-

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
ansicht von ihm an, die doch in wahrheit schon empedokleisch war,
wie wir denn wirklich nichts weder von productivem denken noch von
zielbewuſstem handeln in Kritias finden können. wir werden nicht fehl
gehen, wenn wir hierin die nachwirkung der autorität Platons sehen,
der mit dem mute des reinen herzens, der ihn nie verlassen hat, und
der pietät des jüngeren verwandten, die wir achten dürfen, auch wo die
magis amica veritas uns zum widerspruche zwingt, das bild des geächteten
nicht nur hoch gehalten, sondern verklärt und mit dem schönsten seiner
poesie auf ewig verbunden hat. daſs Aristoteles eine lobschrift auf Kritias
nicht als eine tolle spielerei, wie auf Buseiris und Thersites, sondern
als ein werk angesehen hat, das auf grund einer genauen kenntnis seiner
taten, also der geschichte der 30 und der schriften des Kritias wol
durchführbar wäre, gibt zu denken. er muſs sich mit beiden beschäftigt
haben; für die geschichte lehrt das unser buch auch. aber der mann,
der eine lobrede auf Kritias für möglich hielt, hat die demokratie, nicht
bloſs die des Kleophon, sondern auch die des Demosthenes notwendiger-
weise auf das schärfste verurteilt. das hätten wir uns längst sagen können.

Alkibiades.Noch viel merkwürdiger ist das fehlen des Alkibiades. Aristoteles
hat also den genialen menschen für die verfassungsgeschichte Athens
als bedeutungslos betrachtet. doch das konnte er kaum; denn wer den
sicilischen und den dekeleischen krieg entzündet hat, den abfall von Chios
bewirkt und Persien in die hellenischen verwickelungen hineingezogen, wer
die institution des ostrakismos unbrauchbar gemacht und durch die be-
seitigung des ventiles die explosionen des parteihasses herbeigeführt hat,
der ist, so weit es ein sterblicher sein kann, der demagoge der die
demokratie zerstört hat. alle diese dinge setzt Aristoteles viel mehr
voraus, als daſs er sie erzählte. indessen das reicht zur erklärung nicht.
nur mit bestimmter absicht kann Alkibiades in dem berichte über die
revolution von 411 fehlen, ganz wie Phrynichos. folglich hat Aristoteles
den bedeutenden mann gleichsam wie einen kometen aus den kreisen,
in denen sich das system des athenischen staates bewegte, ausschlieſsen
zu dürfen geglaubt, und er hat es wol deshalb getan, weil er ihm
psychologisch so viel rätsel aufgab wie uns. mitgewirkt hat indessen
wol auch zweierlei. die oligarchische schrift, die wir sogleich näher
kennen lernen, hat Alkibiades, wenn sie überhaupt viel von ihm sagte,
mit dem rücksichtslosesten hasse angegriffen; eine probe haben wir in
der geschichte Solons kennen gelernt (s. 62). das verwarf Aristoteles,
weil er es durchschaute. dann aber kam auch hier die platonische
tradition in betracht. Platon hat diesen daemonischen menschen, viel-

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[132/0146] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. ansicht von ihm an, die doch in wahrheit schon empedokleisch war, wie wir denn wirklich nichts weder von productivem denken noch von zielbewuſstem handeln in Kritias finden können. wir werden nicht fehl gehen, wenn wir hierin die nachwirkung der autorität Platons sehen, der mit dem mute des reinen herzens, der ihn nie verlassen hat, und der pietät des jüngeren verwandten, die wir achten dürfen, auch wo die magis amica veritas uns zum widerspruche zwingt, das bild des geächteten nicht nur hoch gehalten, sondern verklärt und mit dem schönsten seiner poesie auf ewig verbunden hat. daſs Aristoteles eine lobschrift auf Kritias nicht als eine tolle spielerei, wie auf Buseiris und Thersites, sondern als ein werk angesehen hat, das auf grund einer genauen kenntnis seiner taten, also der geschichte der 30 und der schriften des Kritias wol durchführbar wäre, gibt zu denken. er muſs sich mit beiden beschäftigt haben; für die geschichte lehrt das unser buch auch. aber der mann, der eine lobrede auf Kritias für möglich hielt, hat die demokratie, nicht bloſs die des Kleophon, sondern auch die des Demosthenes notwendiger- weise auf das schärfste verurteilt. das hätten wir uns längst sagen können. Noch viel merkwürdiger ist das fehlen des Alkibiades. Aristoteles hat also den genialen menschen für die verfassungsgeschichte Athens als bedeutungslos betrachtet. doch das konnte er kaum; denn wer den sicilischen und den dekeleischen krieg entzündet hat, den abfall von Chios bewirkt und Persien in die hellenischen verwickelungen hineingezogen, wer die institution des ostrakismos unbrauchbar gemacht und durch die be- seitigung des ventiles die explosionen des parteihasses herbeigeführt hat, der ist, so weit es ein sterblicher sein kann, der demagoge der die demokratie zerstört hat. alle diese dinge setzt Aristoteles viel mehr voraus, als daſs er sie erzählte. indessen das reicht zur erklärung nicht. nur mit bestimmter absicht kann Alkibiades in dem berichte über die revolution von 411 fehlen, ganz wie Phrynichos. folglich hat Aristoteles den bedeutenden mann gleichsam wie einen kometen aus den kreisen, in denen sich das system des athenischen staates bewegte, ausschlieſsen zu dürfen geglaubt, und er hat es wol deshalb getan, weil er ihm psychologisch so viel rätsel aufgab wie uns. mitgewirkt hat indessen wol auch zweierlei. die oligarchische schrift, die wir sogleich näher kennen lernen, hat Alkibiades, wenn sie überhaupt viel von ihm sagte, mit dem rücksichtslosesten hasse angegriffen; eine probe haben wir in der geschichte Solons kennen gelernt (s. 62). das verwarf Aristoteles, weil er es durchschaute. dann aber kam auch hier die platonische tradition in betracht. Platon hat diesen daemonischen menschen, viel- Alkibiades.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/146>, abgerufen am 23.04.2024.