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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Kleon und Kleophon. Kritias.
zur debatte, die Aristoteles für 406 angibt. 17) nur passt der status quo
als angebot, die seeherrschaft als forderung für das letztere jahr durchaus
nicht mehr, und mit vollem rechte hat Grote 18) dem schon früher be-
kannten zeugnisse des Aristoteles den glauben versagt. hier ist aber
der philosoph höchst persönlich schuldig zu sprechen, denn die chronik
konnte ihn nicht verführen: er hat eine drastische beschreibung von
Kleophons terrorismus, die ohne festes datum gegeben war, 406 an-
gesetzt, Aischines 405, und hat dabei die friedensbedingungen von 410
verwandt, die allerdings Kleophon bekämpft hat, Aischines die von 405,
die er auch bekämpft hat. wir können nur urteilen, dass die geschichte
entweder 410 oder 405, aber nicht 406 passirt ist. aber auf gleich-
zeitige erinnerung geht sie zurück. einen schluss darauf, woher Aristo-
teles sie nahm, gestattet sie selber nicht; es kommt auch wenig darauf an.

Der moderne leser wundert sich vielleicht noch mehr über das was
Aristoteles in dieser zeit nicht erwähnt als über die ungenauigkeiten in
dem erwähnten. die dreissig bleiben eine ungegliederte masse, die
schwarze folie für das leuchtende bild des Theramenes, und nirgend,Kritias.
nicht einmal bei der schlacht in Munichia, wo er fiel, kommt Kritias
vor. das ist der verschweigung des Phrynichos unter den 400 analog,
und die Politik nennt doch die ultras in beiden oligarchieen neben einander
(E 1305b) als die demagogen, d. h. die durch unsaubere künste das
collegium beherrschenden. dann waren sie einer erwähnung nicht wert.
allein die Politik nennt dabei den Charikles, nicht das eigentliche haupt,
Kritias. dahinter muss etwas besonderes stecken. die rhetorik (III 1416b)
exemplificirt mit ihm in sehr bemerkenswerter weise: in einer lobrede
auf Achilleus brauche man seine taten, weil sie jeder kenne, nicht zu
erzählen, wol aber in einer auf Kritias, ou gar polloi isasi. in den
augen des Aristoteles hat er also das Kainszeichen des tyrannen, das
ihm der demos aufgedrückt hatte, nicht getragen. während niemand
seine zahlreichen werke las, ausser dem Peirithoos, den die falsche flagge
des Euripides schützte, führt Aristoteles in der psychologie (I 405b) eine

17) Diodor 13, 53. Philochoros im schol. Eur. Orest. 371. 903. danach fällt
die verhandlung noch unter Theopompos 411/10 d. h. in dessen letzte monate. eine
gesandtschaft ist auch unter Euklemon 408/7 in Athen gewesen. wir wissen aber
nur, dass sie über die auswechselung der kriegsgefangenen verhandelt hat, Androtion
in den schol. zur Ethik, vgl. Usener Fleckeis. Jahrb. 1871, 311.
18) Cap. 65 anf. Grotes fragestellung erzwingt die antwort. der vers am
schlusse der Frösche, Kleophon de makhestho, zu dem der scholiast die Aristoteles-
stelle angeschrieben hat, beweist nichts als das selbstverständliche, dass Kleophon
auf der seite der kriegspartei stand, also dem Aristophanes zuwider war.
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Kleon und Kleophon. Kritias.
zur debatte, die Aristoteles für 406 angibt. 17) nur paſst der status quo
als angebot, die seeherrschaft als forderung für das letztere jahr durchaus
nicht mehr, und mit vollem rechte hat Grote 18) dem schon früher be-
kannten zeugnisse des Aristoteles den glauben versagt. hier ist aber
der philosoph höchst persönlich schuldig zu sprechen, denn die chronik
konnte ihn nicht verführen: er hat eine drastische beschreibung von
Kleophons terrorismus, die ohne festes datum gegeben war, 406 an-
gesetzt, Aischines 405, und hat dabei die friedensbedingungen von 410
verwandt, die allerdings Kleophon bekämpft hat, Aischines die von 405,
die er auch bekämpft hat. wir können nur urteilen, daſs die geschichte
entweder 410 oder 405, aber nicht 406 passirt ist. aber auf gleich-
zeitige erinnerung geht sie zurück. einen schluſs darauf, woher Aristo-
teles sie nahm, gestattet sie selber nicht; es kommt auch wenig darauf an.

Der moderne leser wundert sich vielleicht noch mehr über das was
Aristoteles in dieser zeit nicht erwähnt als über die ungenauigkeiten in
dem erwähnten. die dreiſsig bleiben eine ungegliederte masse, die
schwarze folie für das leuchtende bild des Theramenes, und nirgend,Kritias.
nicht einmal bei der schlacht in Munichia, wo er fiel, kommt Kritias
vor. das ist der verschweigung des Phrynichos unter den 400 analog,
und die Politik nennt doch die ultras in beiden oligarchieen neben einander
(E 1305b) als die demagogen, d. h. die durch unsaubere künste das
collegium beherrschenden. dann waren sie einer erwähnung nicht wert.
allein die Politik nennt dabei den Charikles, nicht das eigentliche haupt,
Kritias. dahinter muſs etwas besonderes stecken. die rhetorik (III 1416b)
exemplificirt mit ihm in sehr bemerkenswerter weise: in einer lobrede
auf Achilleus brauche man seine taten, weil sie jeder kenne, nicht zu
erzählen, wol aber in einer auf Kritias, οὐ γὰϱ πολλοὶ ἴσασι. in den
augen des Aristoteles hat er also das Kainszeichen des tyrannen, das
ihm der demos aufgedrückt hatte, nicht getragen. während niemand
seine zahlreichen werke las, auſser dem Peirithoos, den die falsche flagge
des Euripides schützte, führt Aristoteles in der psychologie (I 405b) eine

17) Diodor 13, 53. Philochoros im schol. Eur. Orest. 371. 903. danach fällt
die verhandlung noch unter Theopompos 411/10 d. h. in dessen letzte monate. eine
gesandtschaft ist auch unter Euklemon 408/7 in Athen gewesen. wir wissen aber
nur, daſs sie über die auswechselung der kriegsgefangenen verhandelt hat, Androtion
in den schol. zur Ethik, vgl. Usener Fleckeis. Jahrb. 1871, 311.
18) Cap. 65 anf. Grotes fragestellung erzwingt die antwort. der vers am
schlusse der Frösche, Κλεοφῶν δὲ μαχέσϑω, zu dem der scholiast die Aristoteles-
stelle angeschrieben hat, beweist nichts als das selbstverständliche, daſs Kleophon
auf der seite der kriegspartei stand, also dem Aristophanes zuwider war.
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[131/0145] Kleon und Kleophon. Kritias. zur debatte, die Aristoteles für 406 angibt. 17) nur paſst der status quo als angebot, die seeherrschaft als forderung für das letztere jahr durchaus nicht mehr, und mit vollem rechte hat Grote 18) dem schon früher be- kannten zeugnisse des Aristoteles den glauben versagt. hier ist aber der philosoph höchst persönlich schuldig zu sprechen, denn die chronik konnte ihn nicht verführen: er hat eine drastische beschreibung von Kleophons terrorismus, die ohne festes datum gegeben war, 406 an- gesetzt, Aischines 405, und hat dabei die friedensbedingungen von 410 verwandt, die allerdings Kleophon bekämpft hat, Aischines die von 405, die er auch bekämpft hat. wir können nur urteilen, daſs die geschichte entweder 410 oder 405, aber nicht 406 passirt ist. aber auf gleich- zeitige erinnerung geht sie zurück. einen schluſs darauf, woher Aristo- teles sie nahm, gestattet sie selber nicht; es kommt auch wenig darauf an. Der moderne leser wundert sich vielleicht noch mehr über das was Aristoteles in dieser zeit nicht erwähnt als über die ungenauigkeiten in dem erwähnten. die dreiſsig bleiben eine ungegliederte masse, die schwarze folie für das leuchtende bild des Theramenes, und nirgend, nicht einmal bei der schlacht in Munichia, wo er fiel, kommt Kritias vor. das ist der verschweigung des Phrynichos unter den 400 analog, und die Politik nennt doch die ultras in beiden oligarchieen neben einander (E 1305b) als die demagogen, d. h. die durch unsaubere künste das collegium beherrschenden. dann waren sie einer erwähnung nicht wert. allein die Politik nennt dabei den Charikles, nicht das eigentliche haupt, Kritias. dahinter muſs etwas besonderes stecken. die rhetorik (III 1416b) exemplificirt mit ihm in sehr bemerkenswerter weise: in einer lobrede auf Achilleus brauche man seine taten, weil sie jeder kenne, nicht zu erzählen, wol aber in einer auf Kritias, οὐ γὰϱ πολλοὶ ἴσασι. in den augen des Aristoteles hat er also das Kainszeichen des tyrannen, das ihm der demos aufgedrückt hatte, nicht getragen. während niemand seine zahlreichen werke las, auſser dem Peirithoos, den die falsche flagge des Euripides schützte, führt Aristoteles in der psychologie (I 405b) eine Kritias. 17) Diodor 13, 53. Philochoros im schol. Eur. Orest. 371. 903. danach fällt die verhandlung noch unter Theopompos 411/10 d. h. in dessen letzte monate. eine gesandtschaft ist auch unter Euklemon 408/7 in Athen gewesen. wir wissen aber nur, daſs sie über die auswechselung der kriegsgefangenen verhandelt hat, Androtion in den schol. zur Ethik, vgl. Usener Fleckeis. Jahrb. 1871, 311. 18) Cap. 65 anf. Grotes fragestellung erzwingt die antwort. der vers am schlusse der Frösche, Κλεοφῶν δὲ μαχέσϑω, zu dem der scholiast die Aristoteles- stelle angeschrieben hat, beweist nichts als das selbstverständliche, daſs Kleophon auf der seite der kriegspartei stand, also dem Aristophanes zuwider war. 9*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/145>, abgerufen am 28.03.2024.