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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Anytos. Kleon und Kleophon.
tigt zu glauben, und so konnte Aristoteles das überallher wissen: es
würde aber gerechter gewesen sein, wenn er hervorgehoben hätte, dass
zwischen der einführung des richtersoldes und der ersten bestechung
ziemlich ein halbes jahrhundert lag, und Perikles viele jahre tot war,
che der erste fall vorkam.

Von den demagogen werden die beiden plebejer Kleon 11) undKleon und
Kleophon.

Kleophon wesentlich als solche charakterisirt. dass er ein mensch ohne
manieren ist, ohne erziehung, wie sie die gute gesellschaft jedem der
ihren mitgibt, dadurch macht Kleon epoche (28, 3). nicht die erhöhung
der tribute oder die des richtersoldes wird ihm vorgerückt, sondern das
benehmen auf der tribüne. es sind dieselben manieren, die Aischines
an Timarchos tadelt (1, 26), und man vergleiche nur seine statue
mit der des Demosthenes, um zu sehen, dass ihn die bildende kunst
mit berechneter absicht in der keuschen tracht der alten guten zeit
darstellt, seinen mächtigeren aber ungraziösen gegner nicht bloss mit
nakten armen, sondern sogar ohne hemde. aber der verdacht darf nicht
aufkommen, dass die gegensätze der demosthenischen zeit sich in der
schilderung der alten demagogen spiegelten, denn die Ritter werden ja

11) Kleons vater hat schon in den sechziger jahren eine choregie übernommen
(CIA II 991a), damals war die familie also schon bemittelt, wie sie es über den
peloponnesischen krieg hinaus geblieben ist (CIA II 553). also schon Kleainetos hat
keine lohe gekocht und keine ahle geführt, und war vermutlich in der lage mehr
für die erziehung seines sohnes aufzuwenden als sein demot Philippos (der ein landlos
auf Aigina erhielt) für die des Aristophanes. aber die gerberei am Eridanos wird
allerdings wol in der familie geblieben sein, und es ist sehr glaublich, dass der ahn
des hauses erst durch Kleisthenes Athener und Kydathenaeer geworden war. ge-
sellschaftlich gehört er in eine andere sphäre als der sohn eines 'schmiedes'
Sophokles von Kolonos und der eines 'flötensabricanten' Isokrates von Herchia.
der städter hatte es bequem auf die Pnyx, und so hat er da schon den Perikles
angegriffen (Hermippos in den Moiren): seine politische rolle dagegen datirt vom
jahre des Euthynos (427/6), in dem er ratsherr war und als solcher bei der doki-
masia ippeon, bei der taxis phorou und andern finanzpolitischen ordnungen her-
vortrat (es lief die vierjährige etatsperiode gerade ab), und das polizeiliche ein-
schreiten gegen den dichter der Babylonier betrieb. In Platons komoedie, die mit
dem ostrakismos des Hyperbolos schloss, kam auch vor, dass dieser ratsherr ward:
er ist es wahrscheinlich unter Aristion 421/20 gewesen, CIA I 46. noch Demo-
sthenes hat seinen politischen einfluss als ratsherr begründet 347/46. dagegen
Perikles, der die strategie continuirt, verschmähte eine stelle in beiden räten: natür-
licherweise musste er sich dann anderer antragsteller bedienen, wie des Charinos,
oder in der volksversammlung den antrag des rates umwerfen. die dritte möglich-
keit, eine gnome strategon in den rat zu bringen, mag freilich auch vorgekommen
kein, so bei seinem megarischen psephisma (Plut. Per. 30).
v. Wilamowitz, Aristoteles. 9

Anytos. Kleon und Kleophon.
tigt zu glauben, und so konnte Aristoteles das überallher wissen: es
würde aber gerechter gewesen sein, wenn er hervorgehoben hätte, daſs
zwischen der einführung des richtersoldes und der ersten bestechung
ziemlich ein halbes jahrhundert lag, und Perikles viele jahre tot war,
che der erste fall vorkam.

Von den demagogen werden die beiden plebejer Kleon 11) undKleon und
Kleophon.

Kleophon wesentlich als solche charakterisirt. daſs er ein mensch ohne
manieren ist, ohne erziehung, wie sie die gute gesellschaft jedem der
ihren mitgibt, dadurch macht Kleon epoche (28, 3). nicht die erhöhung
der tribute oder die des richtersoldes wird ihm vorgerückt, sondern das
benehmen auf der tribüne. es sind dieselben manieren, die Aischines
an Timarchos tadelt (1, 26), und man vergleiche nur seine statue
mit der des Demosthenes, um zu sehen, daſs ihn die bildende kunst
mit berechneter absicht in der keuschen tracht der alten guten zeit
darstellt, seinen mächtigeren aber ungraziösen gegner nicht bloſs mit
nakten armen, sondern sogar ohne hemde. aber der verdacht darf nicht
aufkommen, daſs die gegensätze der demosthenischen zeit sich in der
schilderung der alten demagogen spiegelten, denn die Ritter werden ja

11) Kleons vater hat schon in den sechziger jahren eine choregie übernommen
(CIA II 991a), damals war die familie also schon bemittelt, wie sie es über den
peloponnesischen krieg hinaus geblieben ist (CIA II 553). also schon Kleainetos hat
keine lohe gekocht und keine ahle geführt, und war vermutlich in der lage mehr
für die erziehung seines sohnes aufzuwenden als sein demot Philippos (der ein landlos
auf Aigina erhielt) für die des Aristophanes. aber die gerberei am Eridanos wird
allerdings wol in der familie geblieben sein, und es ist sehr glaublich, daſs der ahn
des hauses erst durch Kleisthenes Athener und Kydathenaeer geworden war. ge-
sellschaftlich gehört er in eine andere sphäre als der sohn eines ‘schmiedes’
Sophokles von Kolonos und der eines ‘flötensabricanten’ Isokrates von Herchia.
der städter hatte es bequem auf die Pnyx, und so hat er da schon den Perikles
angegriffen (Hermippos in den Moiren): seine politische rolle dagegen datirt vom
jahre des Euthynos (427/6), in dem er ratsherr war und als solcher bei der δοκι-
μασία ἱππέων, bei der τάξις φόϱου und andern finanzpolitischen ordnungen her-
vortrat (es lief die vierjährige etatsperiode gerade ab), und das polizeiliche ein-
schreiten gegen den dichter der Babylonier betrieb. In Platons komoedie, die mit
dem ostrakismos des Hyperbolos schloſs, kam auch vor, daſs dieser ratsherr ward:
er ist es wahrscheinlich unter Aristion 421/20 gewesen, CIA I 46. noch Demo-
sthenes hat seinen politischen einfluſs als ratsherr begründet 347/46. dagegen
Perikles, der die strategie continuirt, verschmähte eine stelle in beiden räten: natür-
licherweise muſste er sich dann anderer antragsteller bedienen, wie des Charinos,
oder in der volksversammlung den antrag des rates umwerfen. die dritte möglich-
keit, eine γνώμη στϱατηγῶν in den rat zu bringen, mag freilich auch vorgekommen
kein, so bei seinem megarischen psephisma (Plut. Per. 30).
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[129/0143] Anytos. Kleon und Kleophon. tigt zu glauben, und so konnte Aristoteles das überallher wissen: es würde aber gerechter gewesen sein, wenn er hervorgehoben hätte, daſs zwischen der einführung des richtersoldes und der ersten bestechung ziemlich ein halbes jahrhundert lag, und Perikles viele jahre tot war, che der erste fall vorkam. Von den demagogen werden die beiden plebejer Kleon 11) und Kleophon wesentlich als solche charakterisirt. daſs er ein mensch ohne manieren ist, ohne erziehung, wie sie die gute gesellschaft jedem der ihren mitgibt, dadurch macht Kleon epoche (28, 3). nicht die erhöhung der tribute oder die des richtersoldes wird ihm vorgerückt, sondern das benehmen auf der tribüne. es sind dieselben manieren, die Aischines an Timarchos tadelt (1, 26), und man vergleiche nur seine statue mit der des Demosthenes, um zu sehen, daſs ihn die bildende kunst mit berechneter absicht in der keuschen tracht der alten guten zeit darstellt, seinen mächtigeren aber ungraziösen gegner nicht bloſs mit nakten armen, sondern sogar ohne hemde. aber der verdacht darf nicht aufkommen, daſs die gegensätze der demosthenischen zeit sich in der schilderung der alten demagogen spiegelten, denn die Ritter werden ja Kleon und Kleophon. 11) Kleons vater hat schon in den sechziger jahren eine choregie übernommen (CIA II 991a), damals war die familie also schon bemittelt, wie sie es über den peloponnesischen krieg hinaus geblieben ist (CIA II 553). also schon Kleainetos hat keine lohe gekocht und keine ahle geführt, und war vermutlich in der lage mehr für die erziehung seines sohnes aufzuwenden als sein demot Philippos (der ein landlos auf Aigina erhielt) für die des Aristophanes. aber die gerberei am Eridanos wird allerdings wol in der familie geblieben sein, und es ist sehr glaublich, daſs der ahn des hauses erst durch Kleisthenes Athener und Kydathenaeer geworden war. ge- sellschaftlich gehört er in eine andere sphäre als der sohn eines ‘schmiedes’ Sophokles von Kolonos und der eines ‘flötensabricanten’ Isokrates von Herchia. der städter hatte es bequem auf die Pnyx, und so hat er da schon den Perikles angegriffen (Hermippos in den Moiren): seine politische rolle dagegen datirt vom jahre des Euthynos (427/6), in dem er ratsherr war und als solcher bei der δοκι- μασία ἱππέων, bei der τάξις φόϱου und andern finanzpolitischen ordnungen her- vortrat (es lief die vierjährige etatsperiode gerade ab), und das polizeiliche ein- schreiten gegen den dichter der Babylonier betrieb. In Platons komoedie, die mit dem ostrakismos des Hyperbolos schloſs, kam auch vor, daſs dieser ratsherr ward: er ist es wahrscheinlich unter Aristion 421/20 gewesen, CIA I 46. noch Demo- sthenes hat seinen politischen einfluſs als ratsherr begründet 347/46. dagegen Perikles, der die strategie continuirt, verschmähte eine stelle in beiden räten: natür- licherweise muſste er sich dann anderer antragsteller bedienen, wie des Charinos, oder in der volksversammlung den antrag des rates umwerfen. die dritte möglich- keit, eine γνώμη στϱατηγῶν in den rat zu bringen, mag freilich auch vorgekommen kein, so bei seinem megarischen psephisma (Plut. Per. 30). v. Wilamowitz, Aristoteles. 9

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/143>, abgerufen am 25.04.2024.