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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
eboulesthe athroous krinein (Plat. apol. 32b). und da die rechtsver-
letzung, gegen welche Sokrates protestirte, in der summarischen ab-
urteilung lag, die dieselbe bleibt, mögen es zehn oder acht sein, ein col-
legium aber gar leicht als eine feste zahl gefasst wird, deren abgang
im speciellen falle man nicht rechnet 9), so ist Sokrates entschuldigt.
sein vorgang aber mag auch dem Aristoteles pardon erwirken, obwol es
nicht schön ist, dass er auf der zehnzahl bauend den Athenern einen
besondern vorwurf macht, weil die unbeteiligten, d. h. Konon, getötet
wären. auf jeden fall konnte er so reden lediglich auf grund einer un-
sichern tradition, die unter den Sokratikern von der grosstat ihres
meisters lebendig sein musste, und es ist irrelevant, ob vielleicht auch
andere so geirrt hatten.

Anytos.Aus sokratischer tradition stammt eine ohne rücksicht auf die zeit-
rechnung gelegentlich der einführung des richtersoldes beigebrachte notiz,
Anytos habe zuerst durch bestechung des gerichtshofes seine freisprechung
durchgesetzt, nachdem durch sein verschulden Pylos verloren war (27, 3).
die geschichte steht genauer bei Diodor XIII 64, wo jedoch Anytos an
dem verluste unschuldig ist, und nur der verurteilung durch bestechung
entgeht. 10) Plutarch hat sie in die Coriolanbiographie eingelegt (14) aus
seiner miscellanlecture, zu der für historische anekdoten peripatiker wie
Theophrast das meiste beisteuern. die tradition der grammatiker hängt
von Aristoteles selbst ab, und es ist nur eine späte verwechslung zweier
ankläger des Sokrates, wenn einmal der schlechte dichter Meletos statt
des staatsmannes Anytos genannt wird (Bekk. An. 236 = Et. M.). seltsam
ist, dass auch der dritte im bunde, Lykon, einen platz der Messenier,
Naupaktos, für geld verraten haben soll, und auch straflos geblieben ist.
dafür liegt ein zeitgenössischer komikervers vor (schol. Plat. apol. 23b).
Platon und Xenophon haben zwar diese persönlichen recriminationen
verschmäht, aber dass die sokratische schule und die durch dessen tod
aufgeregte sophistische litteratur minder wählerisch war, ist man berech-

9) In erzählungen wie der thukydideischen von den 400 mag es auch uns selbst-
verständlich sein, dass 'die 400' durchweg von der majorität dieses rates gesagt wird.
für den Griechen wenigstens ist es eben so selbstverständlich, dass 'die 30' so heissen,
auch nachdem Theramenes getötet ist und Kritias Charikles u. a. gefallen sind, Ar.
37. 38. 39.
10) Xenoph. Hell. I 2, 18 hat die tatsache vielleicht auch erzählt, wenn man
die lückenhaften worte Lakedaimonioi tous eis to Koruphasion ton Eiloton aphe-
stotas ek Maleas upospondous aphekan nach Diodor ergänzen darf, der von dem
entsatzheere des Anytos sagt, dass es ou dunetheis ton Malean kampsai anepleusen
eis Athenas. ein anderer beachtenswerter ergänzungsversuch steht Genethl. Gotting. 168.

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
ἐβούλεσϑε ἁϑϱόους κϱίνειν (Plat. apol. 32b). und da die rechtsver-
letzung, gegen welche Sokrates protestirte, in der summarischen ab-
urteilung lag, die dieselbe bleibt, mögen es zehn oder acht sein, ein col-
legium aber gar leicht als eine feste zahl gefaſst wird, deren abgang
im speciellen falle man nicht rechnet 9), so ist Sokrates entschuldigt.
sein vorgang aber mag auch dem Aristoteles pardon erwirken, obwol es
nicht schön ist, daſs er auf der zehnzahl bauend den Athenern einen
besondern vorwurf macht, weil die unbeteiligten, d. h. Konon, getötet
wären. auf jeden fall konnte er so reden lediglich auf grund einer un-
sichern tradition, die unter den Sokratikern von der groſstat ihres
meisters lebendig sein muſste, und es ist irrelevant, ob vielleicht auch
andere so geirrt hatten.

Anytos.Aus sokratischer tradition stammt eine ohne rücksicht auf die zeit-
rechnung gelegentlich der einführung des richtersoldes beigebrachte notiz,
Anytos habe zuerst durch bestechung des gerichtshofes seine freisprechung
durchgesetzt, nachdem durch sein verschulden Pylos verloren war (27, 3).
die geschichte steht genauer bei Diodor XIII 64, wo jedoch Anytos an
dem verluste unschuldig ist, und nur der verurteilung durch bestechung
entgeht. 10) Plutarch hat sie in die Coriolanbiographie eingelegt (14) aus
seiner miscellanlecture, zu der für historische anekdoten peripatiker wie
Theophrast das meiste beisteuern. die tradition der grammatiker hängt
von Aristoteles selbst ab, und es ist nur eine späte verwechslung zweier
ankläger des Sokrates, wenn einmal der schlechte dichter Meletos statt
des staatsmannes Anytos genannt wird (Bekk. An. 236 = Et. M.). seltsam
ist, daſs auch der dritte im bunde, Lykon, einen platz der Messenier,
Naupaktos, für geld verraten haben soll, und auch straflos geblieben ist.
dafür liegt ein zeitgenössischer komikervers vor (schol. Plat. apol. 23b).
Platon und Xenophon haben zwar diese persönlichen recriminationen
verschmäht, aber daſs die sokratische schule und die durch dessen tod
aufgeregte sophistische litteratur minder wählerisch war, ist man berech-

9) In erzählungen wie der thukydideischen von den 400 mag es auch uns selbst-
verständlich sein, daſs ‘die 400’ durchweg von der majorität dieses rates gesagt wird.
für den Griechen wenigstens ist es eben so selbstverständlich, daſs ‘die 30’ so heiſsen,
auch nachdem Theramenes getötet ist und Kritias Charikles u. a. gefallen sind, Ar.
37. 38. 39.
10) Xenoph. Hell. I 2, 18 hat die tatsache vielleicht auch erzählt, wenn man
die lückenhaften worte Λακεδαιμόνιοι τοὺς εἰς τὸ Κοϱυφάσιον τῶν Εἱλώτων ἀφε-
στῶτας ἐκ Μαλέας ὑποσπόνδους ἀφῆκαν nach Diodor ergänzen darf, der von dem
entsatzheere des Anytos sagt, daſs es οὐ δυνηϑεὶς τὸν Μαλέαν κάμψαι ἀνέπλευσεν
εἰς Ἀϑήνας. ein anderer beachtenswerter ergänzungsversuch steht Genethl. Gotting. 168.
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[128/0142] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. ἐβούλεσϑε ἁϑϱόους κϱίνειν (Plat. apol. 32b). und da die rechtsver- letzung, gegen welche Sokrates protestirte, in der summarischen ab- urteilung lag, die dieselbe bleibt, mögen es zehn oder acht sein, ein col- legium aber gar leicht als eine feste zahl gefaſst wird, deren abgang im speciellen falle man nicht rechnet 9), so ist Sokrates entschuldigt. sein vorgang aber mag auch dem Aristoteles pardon erwirken, obwol es nicht schön ist, daſs er auf der zehnzahl bauend den Athenern einen besondern vorwurf macht, weil die unbeteiligten, d. h. Konon, getötet wären. auf jeden fall konnte er so reden lediglich auf grund einer un- sichern tradition, die unter den Sokratikern von der groſstat ihres meisters lebendig sein muſste, und es ist irrelevant, ob vielleicht auch andere so geirrt hatten. Aus sokratischer tradition stammt eine ohne rücksicht auf die zeit- rechnung gelegentlich der einführung des richtersoldes beigebrachte notiz, Anytos habe zuerst durch bestechung des gerichtshofes seine freisprechung durchgesetzt, nachdem durch sein verschulden Pylos verloren war (27, 3). die geschichte steht genauer bei Diodor XIII 64, wo jedoch Anytos an dem verluste unschuldig ist, und nur der verurteilung durch bestechung entgeht. 10) Plutarch hat sie in die Coriolanbiographie eingelegt (14) aus seiner miscellanlecture, zu der für historische anekdoten peripatiker wie Theophrast das meiste beisteuern. die tradition der grammatiker hängt von Aristoteles selbst ab, und es ist nur eine späte verwechslung zweier ankläger des Sokrates, wenn einmal der schlechte dichter Meletos statt des staatsmannes Anytos genannt wird (Bekk. An. 236 = Et. M.). seltsam ist, daſs auch der dritte im bunde, Lykon, einen platz der Messenier, Naupaktos, für geld verraten haben soll, und auch straflos geblieben ist. dafür liegt ein zeitgenössischer komikervers vor (schol. Plat. apol. 23b). Platon und Xenophon haben zwar diese persönlichen recriminationen verschmäht, aber daſs die sokratische schule und die durch dessen tod aufgeregte sophistische litteratur minder wählerisch war, ist man berech- Anytos. 9) In erzählungen wie der thukydideischen von den 400 mag es auch uns selbst- verständlich sein, daſs ‘die 400’ durchweg von der majorität dieses rates gesagt wird. für den Griechen wenigstens ist es eben so selbstverständlich, daſs ‘die 30’ so heiſsen, auch nachdem Theramenes getötet ist und Kritias Charikles u. a. gefallen sind, Ar. 37. 38. 39. 10) Xenoph. Hell. I 2, 18 hat die tatsache vielleicht auch erzählt, wenn man die lückenhaften worte Λακεδαιμόνιοι τοὺς εἰς τὸ Κοϱυφάσιον τῶν Εἱλώτων ἀφε- στῶτας ἐκ Μαλέας ὑποσπόνδους ἀφῆκαν nach Diodor ergänzen darf, der von dem entsatzheere des Anytos sagt, daſs es οὐ δυνηϑεὶς τὸν Μαλέαν κάμψαι ἀνέπλευσεν εἰς Ἀϑήνας. ein anderer beachtenswerter ergänzungsversuch steht Genethl. Gotting. 168.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/142>, abgerufen am 18.04.2024.