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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Disposition der erzählung. der Arginusenprocess.
die ablehnung der lakonischen friedensbedingungen als eine probe der
terroristischen demagogie Kleophons anzuführen: rasch folgt dann in der
niederlage am Ziegenflusse und der tyrannei der 30 die strafe. weder
mit der tragik des zusammenbruches des Reiches noch mit der unsag-
baren not des volkes noch auch mit seiner opferwilligen energie hat
der schriftsteller das geringste mitgefühl. er denkt wie Theramenes.

Es ist durchaus berechtigt, dass Aristoteles nicht die Perserkriege
und nicht den peloponnesischen krieg hat erzählen wollen. wenn er
einmal die attische verfassung ganz isoliren wollte und alles fern hielt,
was über den kreis der stadt und der bürger hinauswies, also sclaven,
metoeken und fremde, die capitulationen mit andern staaten, selbst die
epigamie bei seite liess, so mag es entschuldigt sein, dass er auch den
gerichtszwang der bündner und die organisation der kleruchien über-
gangen hat. obwol man nur die schrift des falschen Xenophon zu lesen
braucht, um zu sehen, wie sehr das Reich und seine interessen damals
die der einzelstaaten überwog, und selbst wer diese politik verurteilte,
ein complement zu dem capitel über die 20000 von Reichs wegen besol-
deten Athener hätte schreiben sollen, das die übertriebenen anforderungen
an die leistungen des volkes als einen grund für die kurze dauer dieses
staates schilderte. aber das fünfte jahrhundert mit der charakteristik
von einer anzahl demagogen abzutun, ist nur durch eine starke vorein-
genommenheit erklärlich. in der seele des Stagiriten ist diese leiden-
schaft nicht von selbst erwachsen: wo sind die Athener, die ihm so im-
ponirt haben, dass er zu einer solchen ungerechtigkeit sich hat fortreissen
lassen, einer ungerechtigkeit, die sich schon stark genug an den einzelnen
personen, aber noch viel mehr an dem staate und der verfassung Athens
versündigt. die frage soll ihre antwort finden; aber es ist angezeigt, dass erst
die qualität der aristotelischen angaben geprüft wird; dabei wird manches
einzelne von selbst seine herkunft verraten, an dem andern aber werden
die bezeichnenden merkmale deutlich hervortreten.

Fangen wir von hinten an. "nach der Arginusenschlacht wurdenDer
Arginusen-
process.

alle zehn feldherrn durch eine abstimmung zum tode verurteilt, obwol
einige gar nicht mitgekämpft hatten, andere auf einem fremden schiffe
selbst gerettet waren (34, 1)." das ist eine arge übertreibung, sinte-
malen nur acht verurteilt und nur sechs hingerichtet sind. 8) aber eben
so notorisch ist, dass der mitvorsitzende prytan jenes tages, Sokrates von
Alopeke, vor gericht also redet ote umeis tous deka strategous --

8) Xenoph. Hell. I 7, 2. 34, dem gegenüber Diodor XIII 97. 101 nicht auf-
kommen kann.

Disposition der erzählung. der Arginusenproceſs.
die ablehnung der lakonischen friedensbedingungen als eine probe der
terroristischen demagogie Kleophons anzuführen: rasch folgt dann in der
niederlage am Ziegenflusse und der tyrannei der 30 die strafe. weder
mit der tragik des zusammenbruches des Reiches noch mit der unsag-
baren not des volkes noch auch mit seiner opferwilligen energie hat
der schriftsteller das geringste mitgefühl. er denkt wie Theramenes.

Es ist durchaus berechtigt, daſs Aristoteles nicht die Perserkriege
und nicht den peloponnesischen krieg hat erzählen wollen. wenn er
einmal die attische verfassung ganz isoliren wollte und alles fern hielt,
was über den kreis der stadt und der bürger hinauswies, also sclaven,
metoeken und fremde, die capitulationen mit andern staaten, selbst die
epigamie bei seite lieſs, so mag es entschuldigt sein, daſs er auch den
gerichtszwang der bündner und die organisation der kleruchien über-
gangen hat. obwol man nur die schrift des falschen Xenophon zu lesen
braucht, um zu sehen, wie sehr das Reich und seine interessen damals
die der einzelstaaten überwog, und selbst wer diese politik verurteilte,
ein complement zu dem capitel über die 20000 von Reichs wegen besol-
deten Athener hätte schreiben sollen, das die übertriebenen anforderungen
an die leistungen des volkes als einen grund für die kurze dauer dieses
staates schilderte. aber das fünfte jahrhundert mit der charakteristik
von einer anzahl demagogen abzutun, ist nur durch eine starke vorein-
genommenheit erklärlich. in der seele des Stagiriten ist diese leiden-
schaft nicht von selbst erwachsen: wo sind die Athener, die ihm so im-
ponirt haben, daſs er zu einer solchen ungerechtigkeit sich hat fortreiſsen
lassen, einer ungerechtigkeit, die sich schon stark genug an den einzelnen
personen, aber noch viel mehr an dem staate und der verfassung Athens
versündigt. die frage soll ihre antwort finden; aber es ist angezeigt, daſs erst
die qualität der aristotelischen angaben geprüft wird; dabei wird manches
einzelne von selbst seine herkunft verraten, an dem andern aber werden
die bezeichnenden merkmale deutlich hervortreten.

Fangen wir von hinten an. “nach der Arginusenschlacht wurdenDer
Arginusen-
proceſs.

alle zehn feldherrn durch eine abstimmung zum tode verurteilt, obwol
einige gar nicht mitgekämpft hatten, andere auf einem fremden schiffe
selbst gerettet waren (34, 1).” das ist eine arge übertreibung, sinte-
malen nur acht verurteilt und nur sechs hingerichtet sind. 8) aber eben
so notorisch ist, daſs der mitvorsitzende prytan jenes tages, Sokrates von
Alopeke, vor gericht also redet ὅτε ὑμεῖς τοὺς δέκα στϱατηγοὺς —

8) Xenoph. Hell. I 7, 2. 34, dem gegenüber Diodor XIII 97. 101 nicht auf-
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[127/0141] Disposition der erzählung. der Arginusenproceſs. die ablehnung der lakonischen friedensbedingungen als eine probe der terroristischen demagogie Kleophons anzuführen: rasch folgt dann in der niederlage am Ziegenflusse und der tyrannei der 30 die strafe. weder mit der tragik des zusammenbruches des Reiches noch mit der unsag- baren not des volkes noch auch mit seiner opferwilligen energie hat der schriftsteller das geringste mitgefühl. er denkt wie Theramenes. Es ist durchaus berechtigt, daſs Aristoteles nicht die Perserkriege und nicht den peloponnesischen krieg hat erzählen wollen. wenn er einmal die attische verfassung ganz isoliren wollte und alles fern hielt, was über den kreis der stadt und der bürger hinauswies, also sclaven, metoeken und fremde, die capitulationen mit andern staaten, selbst die epigamie bei seite lieſs, so mag es entschuldigt sein, daſs er auch den gerichtszwang der bündner und die organisation der kleruchien über- gangen hat. obwol man nur die schrift des falschen Xenophon zu lesen braucht, um zu sehen, wie sehr das Reich und seine interessen damals die der einzelstaaten überwog, und selbst wer diese politik verurteilte, ein complement zu dem capitel über die 20000 von Reichs wegen besol- deten Athener hätte schreiben sollen, das die übertriebenen anforderungen an die leistungen des volkes als einen grund für die kurze dauer dieses staates schilderte. aber das fünfte jahrhundert mit der charakteristik von einer anzahl demagogen abzutun, ist nur durch eine starke vorein- genommenheit erklärlich. in der seele des Stagiriten ist diese leiden- schaft nicht von selbst erwachsen: wo sind die Athener, die ihm so im- ponirt haben, daſs er zu einer solchen ungerechtigkeit sich hat fortreiſsen lassen, einer ungerechtigkeit, die sich schon stark genug an den einzelnen personen, aber noch viel mehr an dem staate und der verfassung Athens versündigt. die frage soll ihre antwort finden; aber es ist angezeigt, daſs erst die qualität der aristotelischen angaben geprüft wird; dabei wird manches einzelne von selbst seine herkunft verraten, an dem andern aber werden die bezeichnenden merkmale deutlich hervortreten. Fangen wir von hinten an. “nach der Arginusenschlacht wurden alle zehn feldherrn durch eine abstimmung zum tode verurteilt, obwol einige gar nicht mitgekämpft hatten, andere auf einem fremden schiffe selbst gerettet waren (34, 1).” das ist eine arge übertreibung, sinte- malen nur acht verurteilt und nur sechs hingerichtet sind. 8) aber eben so notorisch ist, daſs der mitvorsitzende prytan jenes tages, Sokrates von Alopeke, vor gericht also redet ὅτε ὑμεῖς τοὺς δέκα στϱατηγοὺς — Der Arginusen- proceſs. 8) Xenoph. Hell. I 7, 2. 34, dem gegenüber Diodor XIII 97. 101 nicht auf- kommen kann.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/141>, abgerufen am 28.03.2024.