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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
weiter als auf den moment ihr augenmerk zu richten". an der stelle,
wo dieses wort steht, mag es mancher übersehen, aber es ist ohne zeit-
liche befristung ausgesprochen, und auf die überhaupt unerfindlichen per-
sonen kann es nicht gemünzt sein, die etwa während der wochen zwi-
schen Kleophons tod und der einsetzung der 30 auf der pnyx herrschten.
nun, das ist zwar ein wort der leidenschaft und des ekels, und Aristo-
teles müsste uns wenigstens eine oder die andere ausnahme, wie Archinos,
zugestehn: aber hier lässt er einmal seiner stimmung freien lauf, hier
sagt er es selbst, was er von Thrasybulos und Kephalos, Kallistratos und
Eubulos, Demosthenes und Demades gehalten hat. 6) im anschlusse an
dieses wort wird ein werturteil abgegeben, das Nikias und Thukydides 7),
von denen der schriftsteller nicht in der lage gewesen ist taten zu be-
richten, den arkhaioi, d. h. Solon, Peisistratos und Kleisthenes, an die
seite stellt, und dann den Theramenes, dessen rechtfertigung, ganz im
sinne der aristotelischen politischen moral, beigefügt wird, gewissermassen
als anweisung, wie die folgende erzählung der beiden revolutionen be-
urteilt werden solle. so lange sie auf die herstellung der patrios po-
liteia zielen, sind sie gut, und so lange macht sie Theramenes auch
mit. aber er schwenkt ab, sobald sie in oligarchische gewaltherrschaft
ausarten (32, 2. 33, 2. 34, 3. 36, 2): das urteil des Theramenes ist für
Aristoteles massgebend.

In demselben sinne ist auch noch der bericht über die jahre 410
bis 406 gehalten. denn er beschränkt sich darauf, die verurteilung der
feldherrn nach der Arginusenschlacht als einen frevel des demos und

überwundener standpunkt ist. nur hat das wort keinen beleidigenden klang; es ist
kühn und rücksichtslos, aber es bleibt höflich. so was geht auf deutsch nicht.
6) Es ist vielleicht doch wahrscheinlicher, das Aristoteles das wort nicht ge-
prägt hat, sondern übernommen: dann hat er es sich doch zu eigen gemacht und
muss es verantworten. denn nur in dieser kritik liegt die begründung dafür, dass
er über das vierte jahrhundert und seine demagogen schweigt.
7) Ob Aristoteles wirklich etwas von diesem staatsmanne hätte berichten
können, ist fraglich. wir wissen jedenfalls so gut wie nichts von ihm. die haupt-
stelle, die ihn auch günstig auffasst (Plut. Per. 11), scheint auf Theopompos zurück-
zugehn, und der wieder ist von derselben schrift beeinflusst, die dem Aristoteles vorlag.
Aristides pro IV viris II 160 hängt von Plutarch ab. das scholion (III 446), das
den Thukydides skulakode kai oligarkhikon nennt, ist zu wenig verlässlich. wie
viel in den viten des historikers auf den namensvetter geht, ist unsicher. aber dass
dieser seinen paten nicht erwähnt, hat auch einige bedeutung. Platons Laches zeigt
nur, dass er wirklich ein angesehner mann war; dass Platon ihn der ehre würdigte,
erwähnt zu werden, dankt er dem demos Alopeke. wie wenig wir aber die partei-
kämpfe der vierziger jahre kennen, sehen wir an dieser hauptperson am deutlichsten.

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
weiter als auf den moment ihr augenmerk zu richten”. an der stelle,
wo dieses wort steht, mag es mancher übersehen, aber es ist ohne zeit-
liche befristung ausgesprochen, und auf die überhaupt unerfindlichen per-
sonen kann es nicht gemünzt sein, die etwa während der wochen zwi-
schen Kleophons tod und der einsetzung der 30 auf der pnyx herrschten.
nun, das ist zwar ein wort der leidenschaft und des ekels, und Aristo-
teles müſste uns wenigstens eine oder die andere ausnahme, wie Archinos,
zugestehn: aber hier läſst er einmal seiner stimmung freien lauf, hier
sagt er es selbst, was er von Thrasybulos und Kephalos, Kallistratos und
Eubulos, Demosthenes und Demades gehalten hat. 6) im anschlusse an
dieses wort wird ein werturteil abgegeben, das Nikias und Thukydides 7),
von denen der schriftsteller nicht in der lage gewesen ist taten zu be-
richten, den ἀϱχαῖοι, d. h. Solon, Peisistratos und Kleisthenes, an die
seite stellt, und dann den Theramenes, dessen rechtfertigung, ganz im
sinne der aristotelischen politischen moral, beigefügt wird, gewissermaſsen
als anweisung, wie die folgende erzählung der beiden revolutionen be-
urteilt werden solle. so lange sie auf die herstellung der πάτϱιος πο-
λιτεία zielen, sind sie gut, und so lange macht sie Theramenes auch
mit. aber er schwenkt ab, sobald sie in oligarchische gewaltherrschaft
ausarten (32, 2. 33, 2. 34, 3. 36, 2): das urteil des Theramenes ist für
Aristoteles maſsgebend.

In demselben sinne ist auch noch der bericht über die jahre 410
bis 406 gehalten. denn er beschränkt sich darauf, die verurteilung der
feldherrn nach der Arginusenschlacht als einen frevel des demos und

überwundener standpunkt ist. nur hat das wort keinen beleidigenden klang; es ist
kühn und rücksichtslos, aber es bleibt höflich. so was geht auf deutsch nicht.
6) Es ist vielleicht doch wahrscheinlicher, das Aristoteles das wort nicht ge-
prägt hat, sondern übernommen: dann hat er es sich doch zu eigen gemacht und
muſs es verantworten. denn nur in dieser kritik liegt die begründung dafür, daſs
er über das vierte jahrhundert und seine demagogen schweigt.
7) Ob Aristoteles wirklich etwas von diesem staatsmanne hätte berichten
können, ist fraglich. wir wissen jedenfalls so gut wie nichts von ihm. die haupt-
stelle, die ihn auch günstig auffaſst (Plut. Per. 11), scheint auf Theopompos zurück-
zugehn, und der wieder ist von derselben schrift beeinfluſst, die dem Aristoteles vorlag.
Aristides pro IV viris II 160 hängt von Plutarch ab. das scholion (III 446), das
den Thukydides σκυλακώδη καὶ ὀλιγαϱχικόν nennt, ist zu wenig verläſslich. wie
viel in den viten des historikers auf den namensvetter geht, ist unsicher. aber daſs
dieser seinen paten nicht erwähnt, hat auch einige bedeutung. Platons Laches zeigt
nur, daſs er wirklich ein angesehner mann war; daſs Platon ihn der ehre würdigte,
erwähnt zu werden, dankt er dem demos Alopeke. wie wenig wir aber die partei-
kämpfe der vierziger jahre kennen, sehen wir an dieser hauptperson am deutlichsten.
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[126/0140] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. weiter als auf den moment ihr augenmerk zu richten”. an der stelle, wo dieses wort steht, mag es mancher übersehen, aber es ist ohne zeit- liche befristung ausgesprochen, und auf die überhaupt unerfindlichen per- sonen kann es nicht gemünzt sein, die etwa während der wochen zwi- schen Kleophons tod und der einsetzung der 30 auf der pnyx herrschten. nun, das ist zwar ein wort der leidenschaft und des ekels, und Aristo- teles müſste uns wenigstens eine oder die andere ausnahme, wie Archinos, zugestehn: aber hier läſst er einmal seiner stimmung freien lauf, hier sagt er es selbst, was er von Thrasybulos und Kephalos, Kallistratos und Eubulos, Demosthenes und Demades gehalten hat. 6) im anschlusse an dieses wort wird ein werturteil abgegeben, das Nikias und Thukydides 7), von denen der schriftsteller nicht in der lage gewesen ist taten zu be- richten, den ἀϱχαῖοι, d. h. Solon, Peisistratos und Kleisthenes, an die seite stellt, und dann den Theramenes, dessen rechtfertigung, ganz im sinne der aristotelischen politischen moral, beigefügt wird, gewissermaſsen als anweisung, wie die folgende erzählung der beiden revolutionen be- urteilt werden solle. so lange sie auf die herstellung der πάτϱιος πο- λιτεία zielen, sind sie gut, und so lange macht sie Theramenes auch mit. aber er schwenkt ab, sobald sie in oligarchische gewaltherrschaft ausarten (32, 2. 33, 2. 34, 3. 36, 2): das urteil des Theramenes ist für Aristoteles maſsgebend. In demselben sinne ist auch noch der bericht über die jahre 410 bis 406 gehalten. denn er beschränkt sich darauf, die verurteilung der feldherrn nach der Arginusenschlacht als einen frevel des demos und 5) 6) Es ist vielleicht doch wahrscheinlicher, das Aristoteles das wort nicht ge- prägt hat, sondern übernommen: dann hat er es sich doch zu eigen gemacht und muſs es verantworten. denn nur in dieser kritik liegt die begründung dafür, daſs er über das vierte jahrhundert und seine demagogen schweigt. 7) Ob Aristoteles wirklich etwas von diesem staatsmanne hätte berichten können, ist fraglich. wir wissen jedenfalls so gut wie nichts von ihm. die haupt- stelle, die ihn auch günstig auffaſst (Plut. Per. 11), scheint auf Theopompos zurück- zugehn, und der wieder ist von derselben schrift beeinfluſst, die dem Aristoteles vorlag. Aristides pro IV viris II 160 hängt von Plutarch ab. das scholion (III 446), das den Thukydides σκυλακώδη καὶ ὀλιγαϱχικόν nennt, ist zu wenig verläſslich. wie viel in den viten des historikers auf den namensvetter geht, ist unsicher. aber daſs dieser seinen paten nicht erwähnt, hat auch einige bedeutung. Platons Laches zeigt nur, daſs er wirklich ein angesehner mann war; daſs Platon ihn der ehre würdigte, erwähnt zu werden, dankt er dem demos Alopeke. wie wenig wir aber die partei- kämpfe der vierziger jahre kennen, sehen wir an dieser hauptperson am deutlichsten. 5) überwundener standpunkt ist. nur hat das wort keinen beleidigenden klang; es ist kühn und rücksichtslos, aber es bleibt höflich. so was geht auf deutsch nicht.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/140>, abgerufen am 28.03.2024.