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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Stücke der chronik. disposition der erzählung.
massregel dem Perikles hoch anrechnen. das dritte gesetz ist die be-
kannte perikleische beschränkung des bürgerrechtes auf die von beiden
seiten ächtbürtigen. auch sie ist einer erwähnung gewürdigt, weil sie
zur zeit des Aristoteles geltendes recht war (42, 1); aber weder ihre
(rechtliche oder tatsächliche) beseitigung nach etwa zwei jahrzehnten
noch ihre erneuerung durch Aristophon kommt vor, so dass man sieht,
wie nötig bei der benutzung dieses buches es ist, fest zu halten, dass
geschichtliche vollständigkeit nicht beabsichtigt ist.

Diese drei gesetze sind also aus der chronik aufgenommen, weil sie
institutionen begründen, die zur zeit noch gelten. wir durchschauen
die absicht, aber Aristoteles hat sie ohne ein wort der erläuterung hin-
gestellt. und sie heben sich seltsam von ihrer umgebung ab. denn
ausser ihnen ist hier von der urkundlichen erzählung der chronik nichts
als die vereinzelten archontennamen zu finden. alles andere ist nicht
erzählung, geschweige urkundliche, sondern raisonnement. in dies sind
die drei gesetze so äusserlich eingeordnet, dass auf das letzte von ihnen,
das vom jahre des Antidotos 451/0 ist, folgen kann "darauf, als Perikles
die volksführung übernahm, der sich zuerst in seiner jugend bei der an-
klage Kimons ausgezeichnet hatte --", womit also viele jahre zurück-
gegriffen wird.

Sehen wir also von dieser einlage ab, so lässt sich die ganze be-Disposition
der
erzählung

handlung der zeit von 480--411, der zeit des Reiches, bezeichnen als
eine abhandlung peri ton Athenesi demagogon. scheinbar dreht es
sich freilich zuerst um den Areopag, in dessen herrschaft Aristoteles den
grund für die grossen erfolge Athens sieht, und dessen sturz er be-
dauert. aber den sturz selbst schiebt er dem Themistokles in die schuhe,
und die centralisirung der demokratie, die tyrannische herrschaft über
die bündner und die fütterung der bürger aus fremden taschen hat Ari-
steides zu verantworten: also trägt er auch mittelbar daran schuld, dass
dies volk sich die bevormundung durch den Areopag nicht mehr gefallen
lassen wollte. dann wird das zweite par von demagogen charakterisirt,
Kimon und Perikles, wird eine liste der parteiführer von Solon ab ent-
worfen, die ihren abschluss in dem überaus scharfen worte findet "seit
Kleophon haben sich in der führung des volkes unausgesetzt die men-
schen abgelöst, die am meisten geneigt waren ohne jede rücksicht
drauf los zu wirtschaften 5) und der masse ihren willen zu tun ohne

5) Unübersetzbar für mich ist dies oi malista boulomenoi thrasunesthai. aber
man versteht es wol: thrasos ist der gegensatz von deos und von aidos, es sind
die leute "mit dem leichten herzen", zugleich auch die, für welche jede aidos ein

Stücke der chronik. disposition der erzählung.
maſsregel dem Perikles hoch anrechnen. das dritte gesetz ist die be-
kannte perikleische beschränkung des bürgerrechtes auf die von beiden
seiten ächtbürtigen. auch sie ist einer erwähnung gewürdigt, weil sie
zur zeit des Aristoteles geltendes recht war (42, 1); aber weder ihre
(rechtliche oder tatsächliche) beseitigung nach etwa zwei jahrzehnten
noch ihre erneuerung durch Aristophon kommt vor, so daſs man sieht,
wie nötig bei der benutzung dieses buches es ist, fest zu halten, daſs
geschichtliche vollständigkeit nicht beabsichtigt ist.

Diese drei gesetze sind also aus der chronik aufgenommen, weil sie
institutionen begründen, die zur zeit noch gelten. wir durchschauen
die absicht, aber Aristoteles hat sie ohne ein wort der erläuterung hin-
gestellt. und sie heben sich seltsam von ihrer umgebung ab. denn
auſser ihnen ist hier von der urkundlichen erzählung der chronik nichts
als die vereinzelten archontennamen zu finden. alles andere ist nicht
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die drei gesetze so äuſserlich eingeordnet, daſs auf das letzte von ihnen,
das vom jahre des Antidotos 451/0 ist, folgen kann “darauf, als Perikles
die volksführung übernahm, der sich zuerst in seiner jugend bei der an-
klage Kimons ausgezeichnet hatte —”, womit also viele jahre zurück-
gegriffen wird.

Sehen wir also von dieser einlage ab, so läſst sich die ganze be-Disposition
der
erzählung

handlung der zeit von 480—411, der zeit des Reiches, bezeichnen als
eine abhandlung πεϱὶ τῶν Ἀϑήνησι δημαγωγῶν. scheinbar dreht es
sich freilich zuerst um den Areopag, in dessen herrschaft Aristoteles den
grund für die groſsen erfolge Athens sieht, und dessen sturz er be-
dauert. aber den sturz selbst schiebt er dem Themistokles in die schuhe,
und die centralisirung der demokratie, die tyrannische herrschaft über
die bündner und die fütterung der bürger aus fremden taschen hat Ari-
steides zu verantworten: also trägt er auch mittelbar daran schuld, daſs
dies volk sich die bevormundung durch den Areopag nicht mehr gefallen
lassen wollte. dann wird das zweite par von demagogen charakterisirt,
Kimon und Perikles, wird eine liste der parteiführer von Solon ab ent-
worfen, die ihren abschluſs in dem überaus scharfen worte findet “seit
Kleophon haben sich in der führung des volkes unausgesetzt die men-
schen abgelöst, die am meisten geneigt waren ohne jede rücksicht
drauf los zu wirtschaften 5) und der masse ihren willen zu tun ohne

5) Unübersetzbar für mich ist dies οἱ μάλιστα βουλόμενοι ϑϱασύνεσϑαι. aber
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[125/0139] Stücke der chronik. disposition der erzählung. maſsregel dem Perikles hoch anrechnen. das dritte gesetz ist die be- kannte perikleische beschränkung des bürgerrechtes auf die von beiden seiten ächtbürtigen. auch sie ist einer erwähnung gewürdigt, weil sie zur zeit des Aristoteles geltendes recht war (42, 1); aber weder ihre (rechtliche oder tatsächliche) beseitigung nach etwa zwei jahrzehnten noch ihre erneuerung durch Aristophon kommt vor, so daſs man sieht, wie nötig bei der benutzung dieses buches es ist, fest zu halten, daſs geschichtliche vollständigkeit nicht beabsichtigt ist. Diese drei gesetze sind also aus der chronik aufgenommen, weil sie institutionen begründen, die zur zeit noch gelten. wir durchschauen die absicht, aber Aristoteles hat sie ohne ein wort der erläuterung hin- gestellt. und sie heben sich seltsam von ihrer umgebung ab. denn auſser ihnen ist hier von der urkundlichen erzählung der chronik nichts als die vereinzelten archontennamen zu finden. alles andere ist nicht erzählung, geschweige urkundliche, sondern raisonnement. in dies sind die drei gesetze so äuſserlich eingeordnet, daſs auf das letzte von ihnen, das vom jahre des Antidotos 451/0 ist, folgen kann “darauf, als Perikles die volksführung übernahm, der sich zuerst in seiner jugend bei der an- klage Kimons ausgezeichnet hatte —”, womit also viele jahre zurück- gegriffen wird. Sehen wir also von dieser einlage ab, so läſst sich die ganze be- handlung der zeit von 480—411, der zeit des Reiches, bezeichnen als eine abhandlung πεϱὶ τῶν Ἀϑήνησι δημαγωγῶν. scheinbar dreht es sich freilich zuerst um den Areopag, in dessen herrschaft Aristoteles den grund für die groſsen erfolge Athens sieht, und dessen sturz er be- dauert. aber den sturz selbst schiebt er dem Themistokles in die schuhe, und die centralisirung der demokratie, die tyrannische herrschaft über die bündner und die fütterung der bürger aus fremden taschen hat Ari- steides zu verantworten: also trägt er auch mittelbar daran schuld, daſs dies volk sich die bevormundung durch den Areopag nicht mehr gefallen lassen wollte. dann wird das zweite par von demagogen charakterisirt, Kimon und Perikles, wird eine liste der parteiführer von Solon ab ent- worfen, die ihren abschluſs in dem überaus scharfen worte findet “seit Kleophon haben sich in der führung des volkes unausgesetzt die men- schen abgelöst, die am meisten geneigt waren ohne jede rücksicht drauf los zu wirtschaften 5) und der masse ihren willen zu tun ohne Disposition der erzählung 5) Unübersetzbar für mich ist dies οἱ μάλιστα βουλόμενοι ϑϱασύνεσϑαι. aber man versteht es wol: ϑϱάσος ist der gegensatz von δέος und von αἰδώς, es sind die leute “mit dem leichten herzen”, zugleich auch die, für welche jede αἰδώς ein

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/139>, abgerufen am 24.04.2024.