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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die geschichte der 400.
und schwindel, noch mehr durch das anwerben von banden und einzeln
durch kühne verbrechen. es kommt wirklich nicht viel darauf an, ob
jede einzelheit für sich richtig erzählt ist: das gesammtbild ist darum
nicht falsch, und wird es auch nicht durch die berichtigungen des Ari-
stoteles die officielle actenmässige darstellung wird freilich correcter sein
als jede noch so gewissenhaft auf erzählungen von augenzeugen und ferner
oder näher stehenden teilnehmern einer revolution beruhende. aber was
in solcher zeit wirklich geschieht, ist wahrlich nicht mit dem erschöpft
was in die acten kommt. Thukydides nun, verbannt seit jahren,
selbst nur von den letzten wellenkreisen berührt, welche die athenische
revolution hervorrief, angewiesen vornehmlich auf berichte aus feindlichem
lager oder von ausgestossenen wie er selbst einer war 16), hat seine ge-
schichtliche aufgabe nicht leicht gehabt, aber er hat sie auch nicht leicht
genommen. Aristoteles hat ihn berichtigt; er mag auch objectiv im
rechte gewesen sein, wenn er über die charaktere der handelnden per-
sonen anders urteilt: aber die geflissentliche constatirung der acten-
mässigen wahrheit und die für den aufmerksamen leser, der auch den
ton der berichtigung hört, offenkundige polemik verrät, dass es ihm wol
tat, den Thukydides als unzureichend informirt zu überführen, und dass es
ihm deshalb wol tat, weil er vor sich und andern damit die berechtigung
erwiesen zu haben glaubte, nicht nur einzelne personen, sondern die
ganze attische geschichte und ihre ideale anders zu beurteilen als es
Thukydides getan hat.

Wo aber hat Aristoteles die actenstücke her? zunächst wird wol
jeder geglaubt haben, dass er sie im archiv gefunden hätte. denn dass
der verfasser der didaskaliai, nikai, nomoi die archive benutzt hat
(ob selbst oder durch amanuenses, verschlägt nichts), glaube ich auch
jetzt noch. auch hat er den verfassungsentwurf Ca ohne zweifel wesent-
lich wegen seiner eminenten wichtigkeit für die politische theorie mit-

16) Für das verfahren des Peisandros in den Reichsstädten ist ihm Thasos
der einzige concrete beleg (64); Andros Tenos Karystos erschliessen wir erst aus dem
auftreten ihrer contingente in Athen (69, vgl. 65). offenbar war der gutsherr von
Skapte Hyle über die nächste civilisirte stadt selbst unterrichtet. unter den zur
ordnung ratenden männern, die im Peiraieus nicht den kopf verlieren, als bürger-
krieg droht, tritt der Pharsalier Menon, sohn des Thukydides auf (93), der nicht bloss
zufällig ein namensvetter des historikers war, welcher ja den vater Menon ebenfalls
nennt (2, 22). der kann z. b. auch ein berichterstatter sein. dass buch 8 vor der
rückkehr des Thukydides geschrieben ist, betrachte ich als über jeden zweifel er-
haben. es trägt auch keine spur der begonnenen letzten überarbeitung, auch keine
spur eines herausgebers. ich kann das beweisen.

Die geschichte der 400.
und schwindel, noch mehr durch das anwerben von banden und einzeln
durch kühne verbrechen. es kommt wirklich nicht viel darauf an, ob
jede einzelheit für sich richtig erzählt ist: das gesammtbild ist darum
nicht falsch, und wird es auch nicht durch die berichtigungen des Ari-
stoteles die officielle actenmäſsige darstellung wird freilich correcter sein
als jede noch so gewissenhaft auf erzählungen von augenzeugen und ferner
oder näher stehenden teilnehmern einer revolution beruhende. aber was
in solcher zeit wirklich geschieht, ist wahrlich nicht mit dem erschöpft
was in die acten kommt. Thukydides nun, verbannt seit jahren,
selbst nur von den letzten wellenkreisen berührt, welche die athenische
revolution hervorrief, angewiesen vornehmlich auf berichte aus feindlichem
lager oder von ausgestoſsenen wie er selbst einer war 16), hat seine ge-
schichtliche aufgabe nicht leicht gehabt, aber er hat sie auch nicht leicht
genommen. Aristoteles hat ihn berichtigt; er mag auch objectiv im
rechte gewesen sein, wenn er über die charaktere der handelnden per-
sonen anders urteilt: aber die geflissentliche constatirung der acten-
mäſsigen wahrheit und die für den aufmerksamen leser, der auch den
ton der berichtigung hört, offenkundige polemik verrät, daſs es ihm wol
tat, den Thukydides als unzureichend informirt zu überführen, und daſs es
ihm deshalb wol tat, weil er vor sich und andern damit die berechtigung
erwiesen zu haben glaubte, nicht nur einzelne personen, sondern die
ganze attische geschichte und ihre ideale anders zu beurteilen als es
Thukydides getan hat.

Wo aber hat Aristoteles die actenstücke her? zunächst wird wol
jeder geglaubt haben, daſs er sie im archiv gefunden hätte. denn daſs
der verfasser der διδασκαλίαι, νῖκαι, νόμοι die archive benutzt hat
(ob selbst oder durch amanuenses, verschlägt nichts), glaube ich auch
jetzt noch. auch hat er den verfassungsentwurf Ca ohne zweifel wesent-
lich wegen seiner eminenten wichtigkeit für die politische theorie mit-

16) Für das verfahren des Peisandros in den Reichsstädten ist ihm Thasos
der einzige concrete beleg (64); Andros Tenos Karystos erschlieſsen wir erst aus dem
auftreten ihrer contingente in Athen (69, vgl. 65). offenbar war der gutsherr von
Skapte Hyle über die nächste civilisirte stadt selbst unterrichtet. unter den zur
ordnung ratenden männern, die im Peiraieus nicht den kopf verlieren, als bürger-
krieg droht, tritt der Pharsalier Menon, sohn des Thukydides auf (93), der nicht bloſs
zufällig ein namensvetter des historikers war, welcher ja den vater Menon ebenfalls
nennt (2, 22). der kann z. b. auch ein berichterstatter sein. daſs buch 8 vor der
rückkehr des Thukydides geschrieben ist, betrachte ich als über jeden zweifel er-
haben. es trägt auch keine spur der begonnenen letzten überarbeitung, auch keine
spur eines herausgebers. ich kann das beweisen.
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[107/0121] Die geschichte der 400. und schwindel, noch mehr durch das anwerben von banden und einzeln durch kühne verbrechen. es kommt wirklich nicht viel darauf an, ob jede einzelheit für sich richtig erzählt ist: das gesammtbild ist darum nicht falsch, und wird es auch nicht durch die berichtigungen des Ari- stoteles die officielle actenmäſsige darstellung wird freilich correcter sein als jede noch so gewissenhaft auf erzählungen von augenzeugen und ferner oder näher stehenden teilnehmern einer revolution beruhende. aber was in solcher zeit wirklich geschieht, ist wahrlich nicht mit dem erschöpft was in die acten kommt. Thukydides nun, verbannt seit jahren, selbst nur von den letzten wellenkreisen berührt, welche die athenische revolution hervorrief, angewiesen vornehmlich auf berichte aus feindlichem lager oder von ausgestoſsenen wie er selbst einer war 16), hat seine ge- schichtliche aufgabe nicht leicht gehabt, aber er hat sie auch nicht leicht genommen. Aristoteles hat ihn berichtigt; er mag auch objectiv im rechte gewesen sein, wenn er über die charaktere der handelnden per- sonen anders urteilt: aber die geflissentliche constatirung der acten- mäſsigen wahrheit und die für den aufmerksamen leser, der auch den ton der berichtigung hört, offenkundige polemik verrät, daſs es ihm wol tat, den Thukydides als unzureichend informirt zu überführen, und daſs es ihm deshalb wol tat, weil er vor sich und andern damit die berechtigung erwiesen zu haben glaubte, nicht nur einzelne personen, sondern die ganze attische geschichte und ihre ideale anders zu beurteilen als es Thukydides getan hat. Wo aber hat Aristoteles die actenstücke her? zunächst wird wol jeder geglaubt haben, daſs er sie im archiv gefunden hätte. denn daſs der verfasser der διδασκαλίαι, νῖκαι, νόμοι die archive benutzt hat (ob selbst oder durch amanuenses, verschlägt nichts), glaube ich auch jetzt noch. auch hat er den verfassungsentwurf Ca ohne zweifel wesent- lich wegen seiner eminenten wichtigkeit für die politische theorie mit- 16) Für das verfahren des Peisandros in den Reichsstädten ist ihm Thasos der einzige concrete beleg (64); Andros Tenos Karystos erschlieſsen wir erst aus dem auftreten ihrer contingente in Athen (69, vgl. 65). offenbar war der gutsherr von Skapte Hyle über die nächste civilisirte stadt selbst unterrichtet. unter den zur ordnung ratenden männern, die im Peiraieus nicht den kopf verlieren, als bürger- krieg droht, tritt der Pharsalier Menon, sohn des Thukydides auf (93), der nicht bloſs zufällig ein namensvetter des historikers war, welcher ja den vater Menon ebenfalls nennt (2, 22). der kann z. b. auch ein berichterstatter sein. daſs buch 8 vor der rückkehr des Thukydides geschrieben ist, betrachte ich als über jeden zweifel er- haben. es trägt auch keine spur der begonnenen letzten überarbeitung, auch keine spur eines herausgebers. ich kann das beweisen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/121>, abgerufen am 24.04.2024.