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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 5. Thukydides.
beschlossen worden. es sind also zum teil anklänge an Cb darin, aber
nicht an das actenstück, nur an die durch dasselbe geschaffenen ämter
und competenzen.11) endlich hat Peisandros keineswegs den antrag ge-
stellt, mag er auch unter den suggraphes gewesen sein: gestellt ist er
als gnome xuggrapheon, und diese form ist uns ja jetzt durch die in-
schriften12), und zwar keineswegs als eine antidemokratische geläufig. und
damit man nicht etwa den einfluss des Peisandros in der ersten ver-
sammlung suche, hat Aristoteles nicht nur den eigentlichen antragsteller
Pythodoros, sondern auch den redner in jener versammlung Melobios
namhaft gemacht. ohne zweifel ist der verfassungsentwurf Ca für Ari-
stoteles geschichtlich und theoretisch vom höchsten werte gewesen, wie
er es für uns ist, und vornehmlich darum hat er ihn mitgeteilt: aber
er dient auch der absicht, der wir die mitteilung der übrigen stücke wol
allein verdanken, der berichtigung des Thukydides. das tut auch die kurze
feststellung der tatsache, dass der alte rat acht tage früher ruhig zurück-
getreten war, als die 400 antraten. Thukydides (8, 69. 70) schildert höchst
anschaulich, wie die 400 mit dolchen unter dem mantel und einer be-
waffneten schar von hilfstruppen und einer bande, die sie zu gewalt-
streichen organisirt hatten, das rathaus umzingeln, während die wehr-
hafte bürgerschaft auf den mauern oder sonst auf vorposten abwesend
ist, wie sie den also eingeschüchterten rat zur abdankung zwingen und
selbst die geschäfte übernehmen. freilich ein anderes bild: wer es im
gedächtnis hat, spürt in der kühlen tatsächlichkeit der aristotelischen
darstellung den bewussten gegensatz, und die schweigende berichtigung
ist auch hier eine schneidendere kritik als laute polemik es sein könnte.

Was sollen wir nun aber mit Thukydides anfangen? wo kommen
wir hin, wenn seine zuverlässigkeit so schlecht sich bewährt? da heisst
es kaltes blut behalten. zunächst die schlimmsten chronologischen fehler
hat nicht er gemacht, sondern wir modernen, die wir einerseits
dem Thukydides folgend den sturz des demos möglichst nahe an den
frühling rücken mussten13), andererseits die viermonatliche dauer der

11) Genaueres in der beilage 'die rede für Polystratos'.
12) Schon in den funfziger jahren hat man solchen ausschuss gewählt, denn
nach der analogie des s. g. eleusinischen psephismas (CIA IV p. 59), wird man auch
in den praescripten des milesischen (IV p. 6) lesen tade hoi kh]sunggra[ph[ - 1 Zeichen fehlt]s
khsunegraphsan.
13) Gleich nach frühlingsanfang marschirt Derkylidas von Milet nach Abydos.
auf die nachricht von seiner ankunft geht Strombichides mit attischen schiffen von
Chios nach dem Hellespont. das gibt der peloponnesischen flotte mut, den Athenern

I. 5. Thukydides.
beschlossen worden. es sind also zum teil anklänge an Cb darin, aber
nicht an das actenstück, nur an die durch dasselbe geschaffenen ämter
und competenzen.11) endlich hat Peisandros keineswegs den antrag ge-
stellt, mag er auch unter den συγγϱαφῆς gewesen sein: gestellt ist er
als γνώμη ξυγγϱαφέων, und diese form ist uns ja jetzt durch die in-
schriften12), und zwar keineswegs als eine antidemokratische geläufig. und
damit man nicht etwa den einfluſs des Peisandros in der ersten ver-
sammlung suche, hat Aristoteles nicht nur den eigentlichen antragsteller
Pythodoros, sondern auch den redner in jener versammlung Melobios
namhaft gemacht. ohne zweifel ist der verfassungsentwurf Ca für Ari-
stoteles geschichtlich und theoretisch vom höchsten werte gewesen, wie
er es für uns ist, und vornehmlich darum hat er ihn mitgeteilt: aber
er dient auch der absicht, der wir die mitteilung der übrigen stücke wol
allein verdanken, der berichtigung des Thukydides. das tut auch die kurze
feststellung der tatsache, daſs der alte rat acht tage früher ruhig zurück-
getreten war, als die 400 antraten. Thukydides (8, 69. 70) schildert höchst
anschaulich, wie die 400 mit dolchen unter dem mantel und einer be-
waffneten schar von hilfstruppen und einer bande, die sie zu gewalt-
streichen organisirt hatten, das rathaus umzingeln, während die wehr-
hafte bürgerschaft auf den mauern oder sonst auf vorposten abwesend
ist, wie sie den also eingeschüchterten rat zur abdankung zwingen und
selbst die geschäfte übernehmen. freilich ein anderes bild: wer es im
gedächtnis hat, spürt in der kühlen tatsächlichkeit der aristotelischen
darstellung den bewuſsten gegensatz, und die schweigende berichtigung
ist auch hier eine schneidendere kritik als laute polemik es sein könnte.

Was sollen wir nun aber mit Thukydides anfangen? wo kommen
wir hin, wenn seine zuverlässigkeit so schlecht sich bewährt? da heiſst
es kaltes blut behalten. zunächst die schlimmsten chronologischen fehler
hat nicht er gemacht, sondern wir modernen, die wir einerseits
dem Thukydides folgend den sturz des demos möglichst nahe an den
frühling rücken muſsten13), andererseits die viermonatliche dauer der

11) Genaueres in der beilage ‘die rede für Polystratos’.
12) Schon in den funfziger jahren hat man solchen ausschuſs gewählt, denn
nach der analogie des s. g. eleusinischen psephismas (CIA IV p. 59), wird man auch
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13) Gleich nach frühlingsanfang marschirt Derkylidas von Milet nach Abydos.
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Chios nach dem Hellespont. das gibt der peloponnesischen flotte mut, den Athenern
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[104/0118] I. 5. Thukydides. beschlossen worden. es sind also zum teil anklänge an Cb darin, aber nicht an das actenstück, nur an die durch dasselbe geschaffenen ämter und competenzen. 11) endlich hat Peisandros keineswegs den antrag ge- stellt, mag er auch unter den συγγϱαφῆς gewesen sein: gestellt ist er als γνώμη ξυγγϱαφέων, und diese form ist uns ja jetzt durch die in- schriften 12), und zwar keineswegs als eine antidemokratische geläufig. und damit man nicht etwa den einfluſs des Peisandros in der ersten ver- sammlung suche, hat Aristoteles nicht nur den eigentlichen antragsteller Pythodoros, sondern auch den redner in jener versammlung Melobios namhaft gemacht. ohne zweifel ist der verfassungsentwurf Ca für Ari- stoteles geschichtlich und theoretisch vom höchsten werte gewesen, wie er es für uns ist, und vornehmlich darum hat er ihn mitgeteilt: aber er dient auch der absicht, der wir die mitteilung der übrigen stücke wol allein verdanken, der berichtigung des Thukydides. das tut auch die kurze feststellung der tatsache, daſs der alte rat acht tage früher ruhig zurück- getreten war, als die 400 antraten. Thukydides (8, 69. 70) schildert höchst anschaulich, wie die 400 mit dolchen unter dem mantel und einer be- waffneten schar von hilfstruppen und einer bande, die sie zu gewalt- streichen organisirt hatten, das rathaus umzingeln, während die wehr- hafte bürgerschaft auf den mauern oder sonst auf vorposten abwesend ist, wie sie den also eingeschüchterten rat zur abdankung zwingen und selbst die geschäfte übernehmen. freilich ein anderes bild: wer es im gedächtnis hat, spürt in der kühlen tatsächlichkeit der aristotelischen darstellung den bewuſsten gegensatz, und die schweigende berichtigung ist auch hier eine schneidendere kritik als laute polemik es sein könnte. Was sollen wir nun aber mit Thukydides anfangen? wo kommen wir hin, wenn seine zuverlässigkeit so schlecht sich bewährt? da heiſst es kaltes blut behalten. zunächst die schlimmsten chronologischen fehler hat nicht er gemacht, sondern wir modernen, die wir einerseits dem Thukydides folgend den sturz des demos möglichst nahe an den frühling rücken muſsten 13), andererseits die viermonatliche dauer der 11) Genaueres in der beilage ‘die rede für Polystratos’. 12) Schon in den funfziger jahren hat man solchen ausschuſs gewählt, denn nach der analogie des s. g. eleusinischen psephismas (CIA IV p. 59), wird man auch in den praescripten des milesischen (IV p. 6) lesen τάδε hοι χ]συνγγϱα[φ_ς χσυνέγϱαφσαν. 13) Gleich nach frühlingsanfang marschirt Derkylidas von Milet nach Abydos. auf die nachricht von seiner ankunft geht Strombichides mit attischen schiffen von Chios nach dem Hellespont. das gibt der peloponnesischen flotte mut, den Athenern

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/118>, abgerufen am 28.03.2024.