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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die prytanen des naukrarischen rates.
kommen ist, einen rat zu bilden, ist zwar nicht mit sicherheit zu sagen,
aber eine vorstellung lässt sich sehr wohl davon gewinnen, nicht zum
wenigsten ist die neue kunde deshalb wertvoll, weil sie nicht völlig ver-
ständlich ist.

Frage über frage drängt sich auf, wenn man den blick auf die alte
zeit heftet. gab es versammlungen des adels neben denen des volkes?
versammlungen etwa auch, an der die freie, aber von steuern aus-
geschlossene bevölkerung, die theten, teil nahmen? wer leitete diese
oder jene versammlungen? wer selbst die solonischen? aber wir dürfen
das noch gar nicht fragen, wir werden nur dazu verleitet, weil wir dank
den noch so kärglichen mitteilungen über Drakons verfassung hier und
da ein licht in dem dunkel aufleuchten sehen, in dem die phantasmen
aegyptischer kasten, ober-eten und was nicht alles für nachtgevögel
schwirrte. die verfolgung der rechtlichen gedanken wird von der ein-
sicht in das spätere staatsrecht aus gewiss noch manches erhellen. aber
die erinnerung an die ereignisse und die persönlichkeiten ist nun einmal
verloren. wir vermögen nicht abzugrenzen, was Drakon neu schuf, was
er nur als geltendes recht aufzeichnete, noch in wie weit er persönlich
der herrschenden plutokratie oder dem andringenden demos zu dienen
bestrebt war. die zeit vor Solon erkennen wir in Drakons gesetzen, und
wenn es auch äusserst wertvoll ist, zu sehen, wie vieles von dem, was uns
solonisch war, schon im siebenten jahrhundert angestrebt worden ist, so
trifft doch die aristotelische kritik den nagel auf den kopf. 'die schuld-
knechtschaft blieb und das land blieb in den händen weniger.' mit
stilistisch wie sachlich gleich grosser berechtigung wiederholt Aristoteles
nach dieser verfassung dieselbe vernichtende kritik, die er vorher von den
socialen zuständen gegeben hatte. erst wer diese reformirte war der
neugründer des attischen staates. das war Solon, zugleich die erste in-
dividuell kenntliche person. von Drakon glaubte Aristoteles wenigstens
die zeit zu wissen, doch auch das nicht ganz sicher. wir wissen sie
nicht.33)

33) Dass Aristotes mit reserve zwar den archon nennt, aber den abstand von
Solon nicht angibt, ist oben hervorgehoben (s. 9). er sagt aber, dass es 'lange
zeit' vor Solon war. das stimmt zu dem ansatze in der neununddreissigsten olym-
piade (621) bei Tatian (adv. Gr. 41, daraus Clem. St. I 366 P.) und Eusebius in
den Canones, der das jahr gibt, aber kata tinas zufügt. die angabe, die auf Diodor
zurückgeht (IX 17), 47 jahre vor Solon, ist ihrer überlieferung nach ganz unsicher;
es ist auch nicht einmal sicher, dass der annalist die distance selbst gezählt hatte.
einen ganz anderen ansatz, 7 jahre vor Solon, hat schol. Aisch. 1, 6. dass wir
v. Wilamowitz, Aristoteles. 7

Die prytanen des naukrarischen rates.
kommen ist, einen rat zu bilden, ist zwar nicht mit sicherheit zu sagen,
aber eine vorstellung läſst sich sehr wohl davon gewinnen, nicht zum
wenigsten ist die neue kunde deshalb wertvoll, weil sie nicht völlig ver-
ständlich ist.

Frage über frage drängt sich auf, wenn man den blick auf die alte
zeit heftet. gab es versammlungen des adels neben denen des volkes?
versammlungen etwa auch, an der die freie, aber von steuern aus-
geschlossene bevölkerung, die theten, teil nahmen? wer leitete diese
oder jene versammlungen? wer selbst die solonischen? aber wir dürfen
das noch gar nicht fragen, wir werden nur dazu verleitet, weil wir dank
den noch so kärglichen mitteilungen über Drakons verfassung hier und
da ein licht in dem dunkel aufleuchten sehen, in dem die phantasmen
aegyptischer kasten, ober-eten und was nicht alles für nachtgevögel
schwirrte. die verfolgung der rechtlichen gedanken wird von der ein-
sicht in das spätere staatsrecht aus gewiſs noch manches erhellen. aber
die erinnerung an die ereignisse und die persönlichkeiten ist nun einmal
verloren. wir vermögen nicht abzugrenzen, was Drakon neu schuf, was
er nur als geltendes recht aufzeichnete, noch in wie weit er persönlich
der herrschenden plutokratie oder dem andringenden demos zu dienen
bestrebt war. die zeit vor Solon erkennen wir in Drakons gesetzen, und
wenn es auch äuſserst wertvoll ist, zu sehen, wie vieles von dem, was uns
solonisch war, schon im siebenten jahrhundert angestrebt worden ist, so
trifft doch die aristotelische kritik den nagel auf den kopf. ‘die schuld-
knechtschaft blieb und das land blieb in den händen weniger.’ mit
stilistisch wie sachlich gleich groſser berechtigung wiederholt Aristoteles
nach dieser verfassung dieselbe vernichtende kritik, die er vorher von den
socialen zuständen gegeben hatte. erst wer diese reformirte war der
neugründer des attischen staates. das war Solon, zugleich die erste in-
dividuell kenntliche person. von Drakon glaubte Aristoteles wenigstens
die zeit zu wissen, doch auch das nicht ganz sicher. wir wissen sie
nicht.33)

33) Daſs Aristotes mit reserve zwar den archon nennt, aber den abstand von
Solon nicht angibt, ist oben hervorgehoben (s. 9). er sagt aber, daſs es ‘lange
zeit’ vor Solon war. das stimmt zu dem ansatze in der neununddreiſsigsten olym-
piade (621) bei Tatian (adv. Gr. 41, daraus Clem. St. I 366 P.) und Eusebius in
den Canones, der das jahr gibt, aber κατὰ τινάς zufügt. die angabe, die auf Diodor
zurückgeht (IX 17), 47 jahre vor Solon, ist ihrer überlieferung nach ganz unsicher;
es ist auch nicht einmal sicher, daſs der annalist die distance selbst gezählt hatte.
einen ganz anderen ansatz, 7 jahre vor Solon, hat schol. Aisch. 1, 6. daſs wir
v. Wilamowitz, Aristoteles. 7
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[97/0111] Die prytanen des naukrarischen rates. kommen ist, einen rat zu bilden, ist zwar nicht mit sicherheit zu sagen, aber eine vorstellung läſst sich sehr wohl davon gewinnen, nicht zum wenigsten ist die neue kunde deshalb wertvoll, weil sie nicht völlig ver- ständlich ist. Frage über frage drängt sich auf, wenn man den blick auf die alte zeit heftet. gab es versammlungen des adels neben denen des volkes? versammlungen etwa auch, an der die freie, aber von steuern aus- geschlossene bevölkerung, die theten, teil nahmen? wer leitete diese oder jene versammlungen? wer selbst die solonischen? aber wir dürfen das noch gar nicht fragen, wir werden nur dazu verleitet, weil wir dank den noch so kärglichen mitteilungen über Drakons verfassung hier und da ein licht in dem dunkel aufleuchten sehen, in dem die phantasmen aegyptischer kasten, ober-eten und was nicht alles für nachtgevögel schwirrte. die verfolgung der rechtlichen gedanken wird von der ein- sicht in das spätere staatsrecht aus gewiſs noch manches erhellen. aber die erinnerung an die ereignisse und die persönlichkeiten ist nun einmal verloren. wir vermögen nicht abzugrenzen, was Drakon neu schuf, was er nur als geltendes recht aufzeichnete, noch in wie weit er persönlich der herrschenden plutokratie oder dem andringenden demos zu dienen bestrebt war. die zeit vor Solon erkennen wir in Drakons gesetzen, und wenn es auch äuſserst wertvoll ist, zu sehen, wie vieles von dem, was uns solonisch war, schon im siebenten jahrhundert angestrebt worden ist, so trifft doch die aristotelische kritik den nagel auf den kopf. ‘die schuld- knechtschaft blieb und das land blieb in den händen weniger.’ mit stilistisch wie sachlich gleich groſser berechtigung wiederholt Aristoteles nach dieser verfassung dieselbe vernichtende kritik, die er vorher von den socialen zuständen gegeben hatte. erst wer diese reformirte war der neugründer des attischen staates. das war Solon, zugleich die erste in- dividuell kenntliche person. von Drakon glaubte Aristoteles wenigstens die zeit zu wissen, doch auch das nicht ganz sicher. wir wissen sie nicht. 33) 33) Daſs Aristotes mit reserve zwar den archon nennt, aber den abstand von Solon nicht angibt, ist oben hervorgehoben (s. 9). er sagt aber, daſs es ‘lange zeit’ vor Solon war. das stimmt zu dem ansatze in der neununddreiſsigsten olym- piade (621) bei Tatian (adv. Gr. 41, daraus Clem. St. I 366 P.) und Eusebius in den Canones, der das jahr gibt, aber κατὰ τινάς zufügt. die angabe, die auf Diodor zurückgeht (IX 17), 47 jahre vor Solon, ist ihrer überlieferung nach ganz unsicher; es ist auch nicht einmal sicher, daſs der annalist die distance selbst gezählt hatte. einen ganz anderen ansatz, 7 jahre vor Solon, hat schol. Aisch. 1, 6. daſs wir v. Wilamowitz, Aristoteles. 7

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/111>, abgerufen am 25.04.2024.