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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 4. Drakons verfassung.
stituirte, war der gedanke des geschwornengerichtes offenbar schon voll-
kommen lebendig. wir können gar nicht sagen, ob er die judicatur
der thesmotheten noch selbständig liess: jedenfalls war es eine ganz
unvermeidliche consequenz, dass Solon auch sie verpflichtete, den spruch
eines gerichtes einzuholen; nur in der besetzung dieser richterstellen,
nicht aristinden sondern ex apanton, lag der demokratische fort-
schritt. es ist eine gerade linie der entwickelung von jener freiwilligen
selbstbeschränkung Athenas bis zu der demokratie, die Aristoteles die
äusserste nennt, und in der das volk kurios tes psephou auch kurios
tes politeias ist. als neben den könig der rat auf dem Areshügel
trat, fieng die herrschaft des demos Erekhtheos an. in Athen ist der poli-
tische gedanke wirklich bis in seine äusserste consequenz verfolgt worden.

Aber die entwickelung hat nicht den verlauf genommen, dass der
rat der adlichen, der aus den beamten hervorgeht, sich in folge der
änderungen der magistratur mit geändert hätte, sondern es ist neben den
adlichen rat ein demokratischer getreten. der hat später einmal den
adlichen matt gesetzt: das ist unter Ephialtes geschehn. als er zuerst
in die erscheinung trat, war das machtverhältnis natürlich umgekehrt:
so treffen wir es unter Drakon.

Der Areopag rät dem könige: wem rät der untere rat? das ist
die frage, auf die uns diese allgemeine erwägung hinführt. in ihr liegt
der schlüssel des verständnisses. Demosthenes würde um die antwort
nicht verlegen sein: dem volke rät er, dem souverän. das trifft auf die
demosthenische zeit zu; aber man braucht nicht allgemeine erwägungen
anzustellen, um diese antwort als ungeschichtlich abzuweisen. man braucht
nur die Politie des Aristoteles zu lesen. in ihr hat das volk überhaupt
kein eigenes capitel, sondern die volksversammlung erscheint lediglich
in dem amtsbereiche der behörde, die sie beruft und leitet, des rates
oder vielmehr seines vorstandes. die analogie zu dem könige, der den
rat des Areopages, zu den gerichtsherren, die die geschwornengerichte
berufen und leiten, ist noch durchaus bewahrt: an der spitze des rates
und mittelbar des volkes stehen die prytanen (denn von der späten und
unbedeutenden neubildung der proedren sieht man ohne weiteres ab).
der vorsitzende der prytanen, der das siegel des staates und die schlüssel
zu den staatscassen und archiven führt, ist der träger der volkssouveräni-
tät, auf vier und zwanzig stunden. er gibt dem tage den namen, wie
der archon dem jahre.

Die pry-
tanen des naukrari-
schen rates.
Die prytanen des Kleisthenischen rates sind ein ausschuss desselben;
sie gehören ihm selbst an. das will sich der analogie, die wir hier ver-

I. 4. Drakons verfassung.
stituirte, war der gedanke des geschwornengerichtes offenbar schon voll-
kommen lebendig. wir können gar nicht sagen, ob er die judicatur
der thesmotheten noch selbständig lieſs: jedenfalls war es eine ganz
unvermeidliche consequenz, daſs Solon auch sie verpflichtete, den spruch
eines gerichtes einzuholen; nur in der besetzung dieser richterstellen,
nicht ἀϱιστίνδην sondern ἐξ ἁπάντων, lag der demokratische fort-
schritt. es ist eine gerade linie der entwickelung von jener freiwilligen
selbstbeschränkung Athenas bis zu der demokratie, die Aristoteles die
äuſserste nennt, und in der das volk κύϱιος τῆς ψήφου auch κύϱιος
τῆς πολιτείας ist. als neben den könig der rat auf dem Areshügel
trat, fieng die herrschaft des δῆμος Ἐϱεχϑῆος an. in Athen ist der poli-
tische gedanke wirklich bis in seine äuſserste consequenz verfolgt worden.

Aber die entwickelung hat nicht den verlauf genommen, daſs der
rat der adlichen, der aus den beamten hervorgeht, sich in folge der
änderungen der magistratur mit geändert hätte, sondern es ist neben den
adlichen rat ein demokratischer getreten. der hat später einmal den
adlichen matt gesetzt: das ist unter Ephialtes geschehn. als er zuerst
in die erscheinung trat, war das machtverhältnis natürlich umgekehrt:
so treffen wir es unter Drakon.

Der Areopag rät dem könige: wem rät der untere rat? das ist
die frage, auf die uns diese allgemeine erwägung hinführt. in ihr liegt
der schlüssel des verständnisses. Demosthenes würde um die antwort
nicht verlegen sein: dem volke rät er, dem souverän. das trifft auf die
demosthenische zeit zu; aber man braucht nicht allgemeine erwägungen
anzustellen, um diese antwort als ungeschichtlich abzuweisen. man braucht
nur die Politie des Aristoteles zu lesen. in ihr hat das volk überhaupt
kein eigenes capitel, sondern die volksversammlung erscheint lediglich
in dem amtsbereiche der behörde, die sie beruft und leitet, des rates
oder vielmehr seines vorstandes. die analogie zu dem könige, der den
rat des Areopages, zu den gerichtsherren, die die geschwornengerichte
berufen und leiten, ist noch durchaus bewahrt: an der spitze des rates
und mittelbar des volkes stehen die prytanen (denn von der späten und
unbedeutenden neubildung der proedren sieht man ohne weiteres ab).
der vorsitzende der prytanen, der das siegel des staates und die schlüssel
zu den staatscassen und archiven führt, ist der träger der volkssouveräni-
tät, auf vier und zwanzig stunden. er gibt dem tage den namen, wie
der archon dem jahre.

Die pry-
tanen des naukrari-
schen rates.
Die prytanen des Kleisthenischen rates sind ein ausschuſs desselben;
sie gehören ihm selbst an. das will sich der analogie, die wir hier ver-

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[92/0106] I. 4. Drakons verfassung. stituirte, war der gedanke des geschwornengerichtes offenbar schon voll- kommen lebendig. wir können gar nicht sagen, ob er die judicatur der thesmotheten noch selbständig lieſs: jedenfalls war es eine ganz unvermeidliche consequenz, daſs Solon auch sie verpflichtete, den spruch eines gerichtes einzuholen; nur in der besetzung dieser richterstellen, nicht ἀϱιστίνδην sondern ἐξ ἁπάντων, lag der demokratische fort- schritt. es ist eine gerade linie der entwickelung von jener freiwilligen selbstbeschränkung Athenas bis zu der demokratie, die Aristoteles die äuſserste nennt, und in der das volk κύϱιος τῆς ψήφου auch κύϱιος τῆς πολιτείας ist. als neben den könig der rat auf dem Areshügel trat, fieng die herrschaft des δῆμος Ἐϱεχϑῆος an. in Athen ist der poli- tische gedanke wirklich bis in seine äuſserste consequenz verfolgt worden. Aber die entwickelung hat nicht den verlauf genommen, daſs der rat der adlichen, der aus den beamten hervorgeht, sich in folge der änderungen der magistratur mit geändert hätte, sondern es ist neben den adlichen rat ein demokratischer getreten. der hat später einmal den adlichen matt gesetzt: das ist unter Ephialtes geschehn. als er zuerst in die erscheinung trat, war das machtverhältnis natürlich umgekehrt: so treffen wir es unter Drakon. Der Areopag rät dem könige: wem rät der untere rat? das ist die frage, auf die uns diese allgemeine erwägung hinführt. in ihr liegt der schlüssel des verständnisses. Demosthenes würde um die antwort nicht verlegen sein: dem volke rät er, dem souverän. das trifft auf die demosthenische zeit zu; aber man braucht nicht allgemeine erwägungen anzustellen, um diese antwort als ungeschichtlich abzuweisen. man braucht nur die Politie des Aristoteles zu lesen. in ihr hat das volk überhaupt kein eigenes capitel, sondern die volksversammlung erscheint lediglich in dem amtsbereiche der behörde, die sie beruft und leitet, des rates oder vielmehr seines vorstandes. die analogie zu dem könige, der den rat des Areopages, zu den gerichtsherren, die die geschwornengerichte berufen und leiten, ist noch durchaus bewahrt: an der spitze des rates und mittelbar des volkes stehen die prytanen (denn von der späten und unbedeutenden neubildung der proedren sieht man ohne weiteres ab). der vorsitzende der prytanen, der das siegel des staates und die schlüssel zu den staatscassen und archiven führt, ist der träger der volkssouveräni- tät, auf vier und zwanzig stunden. er gibt dem tage den namen, wie der archon dem jahre. Die prytanen des Kleisthenischen rates sind ein ausschuſs desselben; sie gehören ihm selbst an. das will sich der analogie, die wir hier ver- Die pry- tanen des naukrari- schen rates.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/106>, abgerufen am 19.04.2024.