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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Magistrat und consilium.
heisst, ist vom 'raten' benannt, muss also ihrer natur nach eine consul-
tative, keine executive sein. wer rät, des ist das handeln nicht; das
ist vielmehr dessen dem er rät. boule ist consilium: in Rom ist das
wort nicht denaturirt, und obwol der senat schliesslich auch die herr-
schaft erlangt hat, ist das ursprüngliche verhältnis wenigstens in der
republik nie unkenntlich geworden. der weg kann gar kein anderer
gewesen sein, als dass die berufung des rates zunächst ein freiwilliger
act des executivbeamten war: so beruft der heerkönig Agamemnon seinen
rat; dann ward es herkommen, dann ward es gesetz, schliesslich ward
der executivbeamte verpflichtet dem rate zu folgen und sank zu einem
organe des rates hinab. in Athen führt der arkhon später seinen namen
wirklich apo tou me arkhein, und wenn der dichter sagt tou drontos
esti kai to bouleuein,
so gilt in seinem staate tes boules esti kai
to dran.
diese macht hat der rat der 500 erst durch Ephialtes erlangt.
wenn wir nun von der zeit reden, die diesen rat erst schuf, so sind
wir verpflichtet ihn nicht als den handelnden, sondern als einen ratenden
rat zu denken.

Die entwickelung der gerichte läuft völlig parallel, in Rom und in
Athen. der könig oder sein rechtsnachfolger hat kraft seines amtes die
findung des urteils, dikazei. er beruft, zunächst je nach belieben, ein
consilium, ihm das urteil finden zu helfen. dann wird diese berufung
herkommen, nomos, und dieses herkommen wandelt sich zum gesetze,
nomos. schliesslich wird der beirat zum dikastes, der gerichtsherr
(egemon) hat nichts zu tun als das urteil zu verkünden. in Athen ist
der könig schon in grauer frühzeit gezwungen worden, sich desselben
consiliums, des rates auf dem Areshügel (der diesen zusatz natürlich
erst erhalten hat, als neben ihm ein anderer rat bestand), für einen
teil der regierungsgeschäfte und für die urteilsfindung in einer reihe
der schwersten rechtsfälle zu bedienen. weil sie sich die autorität nicht
zutraut, allein über Orestes zu richten, beruft Athena die Areopagiten
und setzt den rat ein. so war es seit unvordenklicher zeit geschehn,
als Drakon seine gesetze aufzeichnete. er band, schwerlich aus eigenem
einfall, den könig auch in einer grossen zahl anderer fälle an den wahr-
spruch von 51 adlichen schöffen. wenige jahre vorher hatte bereits
ein gericht von 300 adlichen über die mörder Kylons das urteil gefällt.
das war ein ausnahmefall.27) aber in dem volke, das dieses gericht con-

27) Diese tatsache hat immer in Plutarchs Solon gestanden. wie stark muss
die verblendung der modernen theorie gewesen sein, die trotzdem die geschwornen-
gerichte erst für die zeit des Perikles zugeben wollte.

Magistrat und consilium.
heiſst, ist vom ‘raten’ benannt, muſs also ihrer natur nach eine consul-
tative, keine executive sein. wer rät, des ist das handeln nicht; das
ist vielmehr dessen dem er rät. βουλή ist consilium: in Rom ist das
wort nicht denaturirt, und obwol der senat schlieſslich auch die herr-
schaft erlangt hat, ist das ursprüngliche verhältnis wenigstens in der
republik nie unkenntlich geworden. der weg kann gar kein anderer
gewesen sein, als daſs die berufung des rates zunächst ein freiwilliger
act des executivbeamten war: so beruft der heerkönig Agamemnon seinen
rat; dann ward es herkommen, dann ward es gesetz, schlieſslich ward
der executivbeamte verpflichtet dem rate zu folgen und sank zu einem
organe des rates hinab. in Athen führt der ἄϱχων später seinen namen
wirklich ἀπὸ τοῦ μὴ ἄϱχειν, und wenn der dichter sagt τοῦ δϱῶντός
ἐστι καὶ τὸ βουλεύειν,
so gilt in seinem staate τῆς βουλῆς ἐστι καὶ
τὸ δϱᾶν.
diese macht hat der rat der 500 erst durch Ephialtes erlangt.
wenn wir nun von der zeit reden, die diesen rat erst schuf, so sind
wir verpflichtet ihn nicht als den handelnden, sondern als einen ratenden
rat zu denken.

Die entwickelung der gerichte läuft völlig parallel, in Rom und in
Athen. der könig oder sein rechtsnachfolger hat kraft seines amtes die
findung des urteils, δικάζει. er beruft, zunächst je nach belieben, ein
consilium, ihm das urteil finden zu helfen. dann wird diese berufung
herkommen, νόμος, und dieses herkommen wandelt sich zum gesetze,
νόμος. schlieſslich wird der beirat zum δικαστής, der gerichtsherr
(ἡγεμών) hat nichts zu tun als das urteil zu verkünden. in Athen ist
der könig schon in grauer frühzeit gezwungen worden, sich desselben
consiliums, des rates auf dem Areshügel (der diesen zusatz natürlich
erst erhalten hat, als neben ihm ein anderer rat bestand), für einen
teil der regierungsgeschäfte und für die urteilsfindung in einer reihe
der schwersten rechtsfälle zu bedienen. weil sie sich die autorität nicht
zutraut, allein über Orestes zu richten, beruft Athena die Areopagiten
und setzt den rat ein. so war es seit unvordenklicher zeit geschehn,
als Drakon seine gesetze aufzeichnete. er band, schwerlich aus eigenem
einfall, den könig auch in einer groſsen zahl anderer fälle an den wahr-
spruch von 51 adlichen schöffen. wenige jahre vorher hatte bereits
ein gericht von 300 adlichen über die mörder Kylons das urteil gefällt.
das war ein ausnahmefall.27) aber in dem volke, das dieses gericht con-

27) Diese tatsache hat immer in Plutarchs Solon gestanden. wie stark muſs
die verblendung der modernen theorie gewesen sein, die trotzdem die geschwornen-
gerichte erst für die zeit des Perikles zugeben wollte.
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[91/0105] Magistrat und consilium. heiſst, ist vom ‘raten’ benannt, muſs also ihrer natur nach eine consul- tative, keine executive sein. wer rät, des ist das handeln nicht; das ist vielmehr dessen dem er rät. βουλή ist consilium: in Rom ist das wort nicht denaturirt, und obwol der senat schlieſslich auch die herr- schaft erlangt hat, ist das ursprüngliche verhältnis wenigstens in der republik nie unkenntlich geworden. der weg kann gar kein anderer gewesen sein, als daſs die berufung des rates zunächst ein freiwilliger act des executivbeamten war: so beruft der heerkönig Agamemnon seinen rat; dann ward es herkommen, dann ward es gesetz, schlieſslich ward der executivbeamte verpflichtet dem rate zu folgen und sank zu einem organe des rates hinab. in Athen führt der ἄϱχων später seinen namen wirklich ἀπὸ τοῦ μὴ ἄϱχειν, und wenn der dichter sagt τοῦ δϱῶντός ἐστι καὶ τὸ βουλεύειν, so gilt in seinem staate τῆς βουλῆς ἐστι καὶ τὸ δϱᾶν. diese macht hat der rat der 500 erst durch Ephialtes erlangt. wenn wir nun von der zeit reden, die diesen rat erst schuf, so sind wir verpflichtet ihn nicht als den handelnden, sondern als einen ratenden rat zu denken. Die entwickelung der gerichte läuft völlig parallel, in Rom und in Athen. der könig oder sein rechtsnachfolger hat kraft seines amtes die findung des urteils, δικάζει. er beruft, zunächst je nach belieben, ein consilium, ihm das urteil finden zu helfen. dann wird diese berufung herkommen, νόμος, und dieses herkommen wandelt sich zum gesetze, νόμος. schlieſslich wird der beirat zum δικαστής, der gerichtsherr (ἡγεμών) hat nichts zu tun als das urteil zu verkünden. in Athen ist der könig schon in grauer frühzeit gezwungen worden, sich desselben consiliums, des rates auf dem Areshügel (der diesen zusatz natürlich erst erhalten hat, als neben ihm ein anderer rat bestand), für einen teil der regierungsgeschäfte und für die urteilsfindung in einer reihe der schwersten rechtsfälle zu bedienen. weil sie sich die autorität nicht zutraut, allein über Orestes zu richten, beruft Athena die Areopagiten und setzt den rat ein. so war es seit unvordenklicher zeit geschehn, als Drakon seine gesetze aufzeichnete. er band, schwerlich aus eigenem einfall, den könig auch in einer groſsen zahl anderer fälle an den wahr- spruch von 51 adlichen schöffen. wenige jahre vorher hatte bereits ein gericht von 300 adlichen über die mörder Kylons das urteil gefällt. das war ein ausnahmefall. 27) aber in dem volke, das dieses gericht con- 27) Diese tatsache hat immer in Plutarchs Solon gestanden. wie stark muſs die verblendung der modernen theorie gewesen sein, die trotzdem die geschwornen- gerichte erst für die zeit des Perikles zugeben wollte.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/105>, abgerufen am 19.04.2024.