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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 4. Drakons verfassung.

Der rat.Drakons rat ist eine behörde (ausdrücklich wird er arkhe genannt;
aber das ist der attische auch immer gewesen) von 401 köpfen.25) die
ungerade zahl ist notwendig, weil hohe ordnungsstrafen die teilnahme
aller mitglieder erzwingen. der eintritt in den rat oder die übrigen
behörden ist ebenfalls obligatorisch, denn die iteration ist erst gestattet,
wenn alle berechtigten einmal daran gekommen sind. die behörden
werden alljährlich erlost; es leuchtet aber ein, dass die zahl, aus der
gelost wird, sich jährlich um die summe der vorjährigen beamten ver-
ringert, während nur die nun amtsmündig (d. h. 30 jahre) gewordenen
bürger zutreten.

Es ist evident, dass die 400 diese bestimmung vor augen gehabt
haben, denn sie wollten an die stelle des zweikammersystems der demo-
kratie, rat und volk, einen rat setzen, bestehend aus einem viertel des
volkes, inclusive der beamten des jahres; sie haben auch die strafgelder
beibehalten, doch alles so wesentlich ihrer zeit gemäss modificirt26), dass
nur ein voreingenommener zweifeln kann, wo original, wo copie ist.
für uns waren beide verfassungen so vollkommen überraschend, dass
man sich verständigermassen die sache in ihren consequenzen erst reif-
lich überlegen musste; dabei dürfen sie nicht mit einander vermischt
werden.

Was Drakon angeht, so mag die einsetzung eines rates von so viel
köpfen eine concession an die masse der bürger bedeuten. er gab ja
die gesetze, um dem hader ein ende zu machen. aber man vergesse
die kehrseite nicht. es durfte freilich jeder, der als hoplit im gliede
stand, bürgerliche rechte ausüben; aber er musste es dann auch. in
den rat oder in eine der niederen amtsstellen kam er unweigerlich. mit
andern worten, er musste in der lage sein, ein jahr so ziemlich von
seinen geschäften fern bleiben zu können: jede versäumte sitzung kostete
ihn eine drachme. und dabei hatte er keinesweges das bewusstsein,
dass er oder sein rat wirklich die athenische politik machte. denn der
obere rat, der ihm sammt den höheren beamtenstellen unzugänglich
war, hielt seine starke hand über ihm, auch wenn er im amte war. die
stelle als prytan, die vielleicht einfluss bot, war vollends durch eine wirk-
lich drakonische bestimmung jedem nicht ganz gefügigen plebejer verleidet.
denn wie sollte er einen bürgen höhern standes für sein wolverhalten
finden? wie mochte er die zeit nach ablauf seines amtsjahres, die er

25) Die kleinigkeit, 401 statt der solonischen 400, sollte eigentlich allein ge-
nügen, den gedanken an eine fälschung fern zu halten.
26) Vgl. das capitel patrios politeia.
I. 4. Drakons verfassung.

Der rat.Drakons rat ist eine behörde (ausdrücklich wird er ἀϱχή genannt;
aber das ist der attische auch immer gewesen) von 401 köpfen.25) die
ungerade zahl ist notwendig, weil hohe ordnungsstrafen die teilnahme
aller mitglieder erzwingen. der eintritt in den rat oder die übrigen
behörden ist ebenfalls obligatorisch, denn die iteration ist erst gestattet,
wenn alle berechtigten einmal daran gekommen sind. die behörden
werden alljährlich erlost; es leuchtet aber ein, daſs die zahl, aus der
gelost wird, sich jährlich um die summe der vorjährigen beamten ver-
ringert, während nur die nun amtsmündig (d. h. 30 jahre) gewordenen
bürger zutreten.

Es ist evident, daſs die 400 diese bestimmung vor augen gehabt
haben, denn sie wollten an die stelle des zweikammersystems der demo-
kratie, rat und volk, einen rat setzen, bestehend aus einem viertel des
volkes, inclusive der beamten des jahres; sie haben auch die strafgelder
beibehalten, doch alles so wesentlich ihrer zeit gemäſs modificirt26), daſs
nur ein voreingenommener zweifeln kann, wo original, wo copie ist.
für uns waren beide verfassungen so vollkommen überraschend, daſs
man sich verständigermaſsen die sache in ihren consequenzen erst reif-
lich überlegen muſste; dabei dürfen sie nicht mit einander vermischt
werden.

Was Drakon angeht, so mag die einsetzung eines rates von so viel
köpfen eine concession an die masse der bürger bedeuten. er gab ja
die gesetze, um dem hader ein ende zu machen. aber man vergesse
die kehrseite nicht. es durfte freilich jeder, der als hoplit im gliede
stand, bürgerliche rechte ausüben; aber er muſste es dann auch. in
den rat oder in eine der niederen amtsstellen kam er unweigerlich. mit
andern worten, er muſste in der lage sein, ein jahr so ziemlich von
seinen geschäften fern bleiben zu können: jede versäumte sitzung kostete
ihn eine drachme. und dabei hatte er keinesweges das bewuſstsein,
daſs er oder sein rat wirklich die athenische politik machte. denn der
obere rat, der ihm sammt den höheren beamtenstellen unzugänglich
war, hielt seine starke hand über ihm, auch wenn er im amte war. die
stelle als prytan, die vielleicht einfluſs bot, war vollends durch eine wirk-
lich drakonische bestimmung jedem nicht ganz gefügigen plebejer verleidet.
denn wie sollte er einen bürgen höhern standes für sein wolverhalten
finden? wie mochte er die zeit nach ablauf seines amtsjahres, die er

25) Die kleinigkeit, 401 statt der solonischen 400, sollte eigentlich allein ge-
nügen, den gedanken an eine fälschung fern zu halten.
26) Vgl. das capitel πάτϱιος πολιτεία.
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[88/0102] I. 4. Drakons verfassung. Drakons rat ist eine behörde (ausdrücklich wird er ἀϱχή genannt; aber das ist der attische auch immer gewesen) von 401 köpfen. 25) die ungerade zahl ist notwendig, weil hohe ordnungsstrafen die teilnahme aller mitglieder erzwingen. der eintritt in den rat oder die übrigen behörden ist ebenfalls obligatorisch, denn die iteration ist erst gestattet, wenn alle berechtigten einmal daran gekommen sind. die behörden werden alljährlich erlost; es leuchtet aber ein, daſs die zahl, aus der gelost wird, sich jährlich um die summe der vorjährigen beamten ver- ringert, während nur die nun amtsmündig (d. h. 30 jahre) gewordenen bürger zutreten. Der rat. Es ist evident, daſs die 400 diese bestimmung vor augen gehabt haben, denn sie wollten an die stelle des zweikammersystems der demo- kratie, rat und volk, einen rat setzen, bestehend aus einem viertel des volkes, inclusive der beamten des jahres; sie haben auch die strafgelder beibehalten, doch alles so wesentlich ihrer zeit gemäſs modificirt 26), daſs nur ein voreingenommener zweifeln kann, wo original, wo copie ist. für uns waren beide verfassungen so vollkommen überraschend, daſs man sich verständigermaſsen die sache in ihren consequenzen erst reif- lich überlegen muſste; dabei dürfen sie nicht mit einander vermischt werden. Was Drakon angeht, so mag die einsetzung eines rates von so viel köpfen eine concession an die masse der bürger bedeuten. er gab ja die gesetze, um dem hader ein ende zu machen. aber man vergesse die kehrseite nicht. es durfte freilich jeder, der als hoplit im gliede stand, bürgerliche rechte ausüben; aber er muſste es dann auch. in den rat oder in eine der niederen amtsstellen kam er unweigerlich. mit andern worten, er muſste in der lage sein, ein jahr so ziemlich von seinen geschäften fern bleiben zu können: jede versäumte sitzung kostete ihn eine drachme. und dabei hatte er keinesweges das bewuſstsein, daſs er oder sein rat wirklich die athenische politik machte. denn der obere rat, der ihm sammt den höheren beamtenstellen unzugänglich war, hielt seine starke hand über ihm, auch wenn er im amte war. die stelle als prytan, die vielleicht einfluſs bot, war vollends durch eine wirk- lich drakonische bestimmung jedem nicht ganz gefügigen plebejer verleidet. denn wie sollte er einen bürgen höhern standes für sein wolverhalten finden? wie mochte er die zeit nach ablauf seines amtsjahres, die er 25) Die kleinigkeit, 401 statt der solonischen 400, sollte eigentlich allein ge- nügen, den gedanken an eine fälschung fern zu halten. 26) Vgl. das capitel πάτϱιος πολιτεία.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/102>, abgerufen am 24.04.2024.