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Wienbarg, Ludolf: Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden? Gegen Ersteres und für Letzteres. Hamburg, 1834.

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der alten und neuen Welt auszufüllen vermogte. Lessing schreibt den Nathan, und beweist, daß der Jude eben so viel Ansprüche habe auf den Himmel als der Christ, aber er schreibt nichts, worin er beweist, daß der Bauer, sein Vetter, eben so viel Ansprüche habe den Nathan zu lesen, als der vornehme und gebildete Stadtmensch. Winkelmann steht am Fuße des Vatikans und erfüllt die Welt mit Orakelsprüchen über die Schönheiten des Apoll von Belvedere, über das göttliche zornblickende Auge, die geblähten Nasenflügel, die verächtlich aufgeworfene Unterlippe, "eben hat er den Pfeil abgesandt nach den Kindern der Niobe, noch ist sein Arm erhoben," und im selbigen Augenblicke vielleicht, als er dieses spricht, hebt sein Vater, ein armer Altflicker, gedrückt und gebückt über den Leisten hingebogen, Pfriem und Nadel in die Höhe, blickt mit geisttodten, stumpfen Augen auf einen Kinderschuh und gewährt den Anblick eines Menschen, gegen den gehalten der letzte Sclave des Praiteles, der an die Paläste der altrömischen Großen wie ein Hund angekettete Thürwächter apollinische Gestalten waren.

Volksbildung, o das Wort hat einen griechischen Klang in meinen Ohren und ich muß daher fast bezweifeln, ob es auch von meinen Landsleuten gehörig verstanden wird. Schulleute und Gelehrte werden schon wissen, was ich meine, ich brauche nur die Wörter zu nennen: gumnastika, studia liberalia, id est, wie mein alter Schuldirektor glossirend hinzufügte, studia libero homine digna. Für das größere Publikum muß ich mich wol zu einer etwas umständlichern Erklärung anschicken und besonders für diejenigen, welche nicht begreifen, wie das Volk nicht bloß unterrichtet, in Lesen und Schreiben geübt, sondern auch gebildet werden solle.

Zur Volksbildung, wie zu jeder Bildung gehört zweierlei, etwas Negatives und etwas Positives. Sage ich aber vorher, daß ich die Saiten nicht zu hoch spanne und daß ich so dem natürlichen Muthwillen der Knaben die ganze körperliche Gymnastik, und der Gunst der Götter ihren Schönheitssinn, ihre musikalische Praxis und dergleichen überlasse. Im Negativen ist die Aufgabe der Bildung,

der alten und neuen Welt auszufüllen vermogte. Lessing schreibt den Nathan, und beweist, daß der Jude eben so viel Ansprüche habe auf den Himmel als der Christ, aber er schreibt nichts, worin er beweist, daß der Bauer, sein Vetter, eben so viel Ansprüche habe den Nathan zu lesen, als der vornehme und gebildete Stadtmensch. Winkelmann steht am Fuße des Vatikans und erfüllt die Welt mit Orakelsprüchen über die Schönheiten des Apoll von Belvedere, über das göttliche zornblickende Auge, die geblähten Nasenflügel, die verächtlich aufgeworfene Unterlippe, „eben hat er den Pfeil abgesandt nach den Kindern der Niobe, noch ist sein Arm erhoben,“ und im selbigen Augenblicke vielleicht, als er dieses spricht, hebt sein Vater, ein armer Altflicker, gedrückt und gebückt über den Leisten hingebogen, Pfriem und Nadel in die Höhe, blickt mit geisttodten, stumpfen Augen auf einen Kinderschuh und gewährt den Anblick eines Menschen, gegen den gehalten der letzte Sclave des Praiteles, der an die Paläste der altrömischen Großen wie ein Hund angekettete Thürwächter apollinische Gestalten waren.

Volksbildung, o das Wort hat einen griechischen Klang in meinen Ohren und ich muß daher fast bezweifeln, ob es auch von meinen Landsleuten gehörig verstanden wird. Schulleute und Gelehrte werden schon wissen, was ich meine, ich brauche nur die Wörter zu nennen: γυμναςτικα, studia liberalia, id est, wie mein alter Schuldirektor glossirend hinzufügte, studia libero homine digna. Für das größere Publikum muß ich mich wol zu einer etwas umständlichern Erklärung anschicken und besonders für diejenigen, welche nicht begreifen, wie das Volk nicht bloß unterrichtet, in Lesen und Schreiben geübt, sondern auch gebildet werden solle.

Zur Volksbildung, wie zu jeder Bildung gehört zweierlei, etwas Negatives und etwas Positives. Sage ich aber vorher, daß ich die Saiten nicht zu hoch spanne und daß ich so dem natürlichen Muthwillen der Knaben die ganze körperliche Gymnastik, und der Gunst der Götter ihren Schönheitssinn, ihre musikalische Praxis und dergleichen überlasse. Im Negativen ist die Aufgabe der Bildung,

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der alten und neuen Welt auszufüllen vermogte. Lessing schreibt den Nathan, und beweist, daß der Jude eben so viel Ansprüche habe auf den Himmel als der Christ, aber er schreibt nichts, worin er beweist, daß der Bauer, sein Vetter, eben so viel Ansprüche habe den Nathan zu lesen, als der vornehme und gebildete Stadtmensch. Winkelmann steht am Fuße des Vatikans und erfüllt die Welt mit Orakelsprüchen über die Schönheiten des Apoll von Belvedere, über das göttliche zornblickende Auge, die geblähten Nasenflügel, die verächtlich aufgeworfene Unterlippe, &#x201E;eben hat er den Pfeil abgesandt nach den Kindern der Niobe, noch ist sein Arm erhoben,&#x201C; und im selbigen Augenblicke vielleicht, als er dieses spricht, hebt sein Vater, ein armer Altflicker, gedrückt und gebückt über den Leisten hingebogen, Pfriem und Nadel in die Höhe, blickt mit geisttodten, stumpfen Augen auf einen Kinderschuh und gewährt den Anblick eines Menschen, gegen den gehalten der letzte Sclave des Praiteles, der an die Paläste der altrömischen Großen wie ein Hund angekettete Thürwächter apollinische Gestalten waren.</p>
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[22/0022] der alten und neuen Welt auszufüllen vermogte. Lessing schreibt den Nathan, und beweist, daß der Jude eben so viel Ansprüche habe auf den Himmel als der Christ, aber er schreibt nichts, worin er beweist, daß der Bauer, sein Vetter, eben so viel Ansprüche habe den Nathan zu lesen, als der vornehme und gebildete Stadtmensch. Winkelmann steht am Fuße des Vatikans und erfüllt die Welt mit Orakelsprüchen über die Schönheiten des Apoll von Belvedere, über das göttliche zornblickende Auge, die geblähten Nasenflügel, die verächtlich aufgeworfene Unterlippe, „eben hat er den Pfeil abgesandt nach den Kindern der Niobe, noch ist sein Arm erhoben,“ und im selbigen Augenblicke vielleicht, als er dieses spricht, hebt sein Vater, ein armer Altflicker, gedrückt und gebückt über den Leisten hingebogen, Pfriem und Nadel in die Höhe, blickt mit geisttodten, stumpfen Augen auf einen Kinderschuh und gewährt den Anblick eines Menschen, gegen den gehalten der letzte Sclave des Praiteles, der an die Paläste der altrömischen Großen wie ein Hund angekettete Thürwächter apollinische Gestalten waren. Volksbildung, o das Wort hat einen griechischen Klang in meinen Ohren und ich muß daher fast bezweifeln, ob es auch von meinen Landsleuten gehörig verstanden wird. Schulleute und Gelehrte werden schon wissen, was ich meine, ich brauche nur die Wörter zu nennen: γυμναςτικα, studia liberalia, id est, wie mein alter Schuldirektor glossirend hinzufügte, studia libero homine digna. Für das größere Publikum muß ich mich wol zu einer etwas umständlichern Erklärung anschicken und besonders für diejenigen, welche nicht begreifen, wie das Volk nicht bloß unterrichtet, in Lesen und Schreiben geübt, sondern auch gebildet werden solle. Zur Volksbildung, wie zu jeder Bildung gehört zweierlei, etwas Negatives und etwas Positives. Sage ich aber vorher, daß ich die Saiten nicht zu hoch spanne und daß ich so dem natürlichen Muthwillen der Knaben die ganze körperliche Gymnastik, und der Gunst der Götter ihren Schönheitssinn, ihre musikalische Praxis und dergleichen überlasse. Im Negativen ist die Aufgabe der Bildung,

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Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden? Gegen Ersteres und für Letzteres. Hamburg, 1834, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_plattdeutsch_1834/22>, abgerufen am 25.04.2024.