Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Phantasie und einigem Gefühl gleichsam wehmü¬
thig das aussprechen, was uns das Alterthum
hätte sein sollen und werden können in der blü¬
henden Zeit, als wir in Prima saßen, und über
der Schale nicht zum Kern gelangen konnten.
Zerstreut sind wir worden und ermüdet vor der
Zeit, ein nacktes, dürftiges Wissen von Vokabeln
und Regeln, von Stellen und Gebräuchen haben
wir in die Fächer unseres Gedächtnisses eingesam¬
melt, roh und ungebildet oder frostig gelehrt und
altklug gehen wir aus der Schule der Alten her¬
vor, und nicht dürfen uns beneiden jene Gespielen
unserer ersten Jahre, welche nicht, wie wir, zur
Fahne der Gelehrsamkeit schworen, sondern mit
dürftigem Wissen, aber desto derberem und fröh¬
licherem Lebensgefühl sich dem Landbau oder an¬
dern bürgerlichen Geschäften widmeten. Sie ha¬
ben sich noch selbst behalten, sie sind sich noch der
Einheit ihres Lebens bewußt, ihre Seele wird
nicht hin und her geworfen durch widersprechende
Gefühle und Ansichten, sie lieben die nahe Ge¬
genwart, die kernhafte Arbeit des Tages, sie ruhen
von ihrem Geschäft, spannen sich an und ab nach
dem ältesten Gesetze der Natur, das im behagli¬
chen Wechsel zwischen Thätigkeit und Ruhe be¬
steht, und wenn ihr Geist auch nicht für den Ge¬
nuß höherer Freuden ausgebildet ist, so schwebt er

Phantaſie und einigem Gefuͤhl gleichſam wehmuͤ¬
thig das ausſprechen, was uns das Alterthum
haͤtte ſein ſollen und werden koͤnnen in der bluͤ¬
henden Zeit, als wir in Prima ſaßen, und uͤber
der Schale nicht zum Kern gelangen konnten.
Zerſtreut ſind wir worden und ermuͤdet vor der
Zeit, ein nacktes, duͤrftiges Wiſſen von Vokabeln
und Regeln, von Stellen und Gebraͤuchen haben
wir in die Faͤcher unſeres Gedaͤchtniſſes eingeſam¬
melt, roh und ungebildet oder froſtig gelehrt und
altklug gehen wir aus der Schule der Alten her¬
vor, und nicht duͤrfen uns beneiden jene Geſpielen
unſerer erſten Jahre, welche nicht, wie wir, zur
Fahne der Gelehrſamkeit ſchworen, ſondern mit
duͤrftigem Wiſſen, aber deſto derberem und froͤh¬
licherem Lebensgefuͤhl ſich dem Landbau oder an¬
dern buͤrgerlichen Geſchaͤften widmeten. Sie ha¬
ben ſich noch ſelbſt behalten, ſie ſind ſich noch der
Einheit ihres Lebens bewußt, ihre Seele wird
nicht hin und her geworfen durch widerſprechende
Gefuͤhle und Anſichten, ſie lieben die nahe Ge¬
genwart, die kernhafte Arbeit des Tages, ſie ruhen
von ihrem Geſchaͤft, ſpannen ſich an und ab nach
dem aͤlteſten Geſetze der Natur, das im behagli¬
chen Wechſel zwiſchen Thaͤtigkeit und Ruhe be¬
ſteht, und wenn ihr Geiſt auch nicht fuͤr den Ge¬
nuß hoͤherer Freuden ausgebildet iſt, ſo ſchwebt er

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0067" n="53"/>
Phanta&#x017F;ie und einigem Gefu&#x0364;hl gleich&#x017F;am wehmu&#x0364;¬<lb/>
thig das aus&#x017F;prechen, was uns das Alterthum<lb/>
ha&#x0364;tte &#x017F;ein &#x017F;ollen und werden ko&#x0364;nnen in der blu&#x0364;¬<lb/>
henden Zeit, als wir in Prima &#x017F;aßen, und u&#x0364;ber<lb/>
der Schale nicht zum Kern gelangen konnten.<lb/>
Zer&#x017F;treut &#x017F;ind wir worden und ermu&#x0364;det vor der<lb/>
Zeit, ein nacktes, du&#x0364;rftiges Wi&#x017F;&#x017F;en von Vokabeln<lb/>
und Regeln, von Stellen und Gebra&#x0364;uchen haben<lb/>
wir in die Fa&#x0364;cher un&#x017F;eres Geda&#x0364;chtni&#x017F;&#x017F;es einge&#x017F;am¬<lb/>
melt, roh und ungebildet oder fro&#x017F;tig gelehrt und<lb/>
altklug gehen wir aus der Schule der Alten her¬<lb/>
vor, und nicht du&#x0364;rfen uns beneiden jene Ge&#x017F;pielen<lb/>
un&#x017F;erer er&#x017F;ten Jahre, welche nicht, wie wir, zur<lb/>
Fahne der Gelehr&#x017F;amkeit &#x017F;chworen, &#x017F;ondern mit<lb/>
du&#x0364;rftigem Wi&#x017F;&#x017F;en, aber de&#x017F;to derberem und fro&#x0364;<lb/>
licherem Lebensgefu&#x0364;hl &#x017F;ich dem Landbau oder an¬<lb/>
dern bu&#x0364;rgerlichen Ge&#x017F;cha&#x0364;ften widmeten. Sie ha¬<lb/>
ben &#x017F;ich noch &#x017F;elb&#x017F;t behalten, &#x017F;ie &#x017F;ind &#x017F;ich noch der<lb/>
Einheit ihres Lebens bewußt, ihre Seele wird<lb/>
nicht hin und her geworfen durch wider&#x017F;prechende<lb/>
Gefu&#x0364;hle und An&#x017F;ichten, &#x017F;ie lieben die nahe Ge¬<lb/>
genwart, die kernhafte Arbeit des Tages, &#x017F;ie ruhen<lb/>
von ihrem Ge&#x017F;cha&#x0364;ft, &#x017F;pannen &#x017F;ich an und ab nach<lb/>
dem a&#x0364;lte&#x017F;ten Ge&#x017F;etze der Natur, das im behagli¬<lb/>
chen Wech&#x017F;el zwi&#x017F;chen Tha&#x0364;tigkeit und Ruhe be¬<lb/>
&#x017F;teht, und wenn ihr Gei&#x017F;t auch nicht fu&#x0364;r den Ge¬<lb/>
nuß ho&#x0364;herer Freuden ausgebildet i&#x017F;t, &#x017F;o &#x017F;chwebt er<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[53/0067] Phantaſie und einigem Gefuͤhl gleichſam wehmuͤ¬ thig das ausſprechen, was uns das Alterthum haͤtte ſein ſollen und werden koͤnnen in der bluͤ¬ henden Zeit, als wir in Prima ſaßen, und uͤber der Schale nicht zum Kern gelangen konnten. Zerſtreut ſind wir worden und ermuͤdet vor der Zeit, ein nacktes, duͤrftiges Wiſſen von Vokabeln und Regeln, von Stellen und Gebraͤuchen haben wir in die Faͤcher unſeres Gedaͤchtniſſes eingeſam¬ melt, roh und ungebildet oder froſtig gelehrt und altklug gehen wir aus der Schule der Alten her¬ vor, und nicht duͤrfen uns beneiden jene Geſpielen unſerer erſten Jahre, welche nicht, wie wir, zur Fahne der Gelehrſamkeit ſchworen, ſondern mit duͤrftigem Wiſſen, aber deſto derberem und froͤh¬ licherem Lebensgefuͤhl ſich dem Landbau oder an¬ dern buͤrgerlichen Geſchaͤften widmeten. Sie ha¬ ben ſich noch ſelbſt behalten, ſie ſind ſich noch der Einheit ihres Lebens bewußt, ihre Seele wird nicht hin und her geworfen durch widerſprechende Gefuͤhle und Anſichten, ſie lieben die nahe Ge¬ genwart, die kernhafte Arbeit des Tages, ſie ruhen von ihrem Geſchaͤft, ſpannen ſich an und ab nach dem aͤlteſten Geſetze der Natur, das im behagli¬ chen Wechſel zwiſchen Thaͤtigkeit und Ruhe be¬ ſteht, und wenn ihr Geiſt auch nicht fuͤr den Ge¬ nuß hoͤherer Freuden ausgebildet iſt, ſo ſchwebt er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/67
Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/67>, abgerufen am 16.04.2024.