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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

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eine abstrakte Poesie, als überhaupt etwas abstrakt
Lebendiges -- sondern es hat die Poesie vom Him¬
mel die Gabe empfangen, trotz ihrer beschränkt
geschichtlichen Aeußerung, im Tiefsten das Rein¬
menschliche, Allen Verständliche, Allen bis zu
einem gewissen Grade Genießliche, für ewige Zeit
aufzubewahren; eine Gunst, der sich weder Philo¬
sophie noch Religion zu rühmen vermag. Wie
auch der Indier, der Chinese denkt und handelt,
das mag uns ungereimt, unverständlich vorkom¬
men, so daß wir uns eben so gut ein außer¬
menschliches Wesen, einen Mondbürger in seiner
Person imaginiren können, aber er liebt, wie wir,
er haßt, wie wir, er hofft, er verzweifelt, er
jauchzt, er blutet, wie wir, und diese rein mensch¬
liche Empfindung macht sich unwiderstehlich Luft
aus der Maske seines geschichtlichen Charakters
und erinnert uns an die Bande der Brüderschaft,
die alle Menschengeschlechter mit einander verknü¬
pfen. Lesen Sie das indische Gedicht Naal und
Damajanti -- Vieles wird Ihnen fremdphanta¬
stisch und Gewächs der indischen Zone scheinen --
aber nicht die göttliche Liebe und Treue, welche
sich darin verkörpert. Lesen Sie den Tschi-King,
das Liederbuch der Chinesen *), mit dessen Ueber¬

*) Diese Anführung ist aus Menzel's Literaturblatt.

eine abſtrakte Poeſie, als uͤberhaupt etwas abſtrakt
Lebendiges — ſondern es hat die Poeſie vom Him¬
mel die Gabe empfangen, trotz ihrer beſchraͤnkt
geſchichtlichen Aeußerung, im Tiefſten das Rein¬
menſchliche, Allen Verſtaͤndliche, Allen bis zu
einem gewiſſen Grade Genießliche, fuͤr ewige Zeit
aufzubewahren; eine Gunſt, der ſich weder Philo¬
ſophie noch Religion zu ruͤhmen vermag. Wie
auch der Indier, der Chineſe denkt und handelt,
das mag uns ungereimt, unverſtaͤndlich vorkom¬
men, ſo daß wir uns eben ſo gut ein außer¬
menſchliches Weſen, einen Mondbuͤrger in ſeiner
Perſon imaginiren koͤnnen, aber er liebt, wie wir,
er haßt, wie wir, er hofft, er verzweifelt, er
jauchzt, er blutet, wie wir, und dieſe rein menſch¬
liche Empfindung macht ſich unwiderſtehlich Luft
aus der Maske ſeines geſchichtlichen Charakters
und erinnert uns an die Bande der Bruͤderſchaft,
die alle Menſchengeſchlechter mit einander verknuͤ¬
pfen. Leſen Sie das indiſche Gedicht Naal und
Damajanti — Vieles wird Ihnen fremdphanta¬
ſtiſch und Gewaͤchs der indiſchen Zone ſcheinen —
aber nicht die goͤttliche Liebe und Treue, welche
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[232/0246] eine abſtrakte Poeſie, als uͤberhaupt etwas abſtrakt Lebendiges — ſondern es hat die Poeſie vom Him¬ mel die Gabe empfangen, trotz ihrer beſchraͤnkt geſchichtlichen Aeußerung, im Tiefſten das Rein¬ menſchliche, Allen Verſtaͤndliche, Allen bis zu einem gewiſſen Grade Genießliche, fuͤr ewige Zeit aufzubewahren; eine Gunſt, der ſich weder Philo¬ ſophie noch Religion zu ruͤhmen vermag. Wie auch der Indier, der Chineſe denkt und handelt, das mag uns ungereimt, unverſtaͤndlich vorkom¬ men, ſo daß wir uns eben ſo gut ein außer¬ menſchliches Weſen, einen Mondbuͤrger in ſeiner Perſon imaginiren koͤnnen, aber er liebt, wie wir, er haßt, wie wir, er hofft, er verzweifelt, er jauchzt, er blutet, wie wir, und dieſe rein menſch¬ liche Empfindung macht ſich unwiderſtehlich Luft aus der Maske ſeines geſchichtlichen Charakters und erinnert uns an die Bande der Bruͤderſchaft, die alle Menſchengeſchlechter mit einander verknuͤ¬ pfen. Leſen Sie das indiſche Gedicht Naal und Damajanti — Vieles wird Ihnen fremdphanta¬ ſtiſch und Gewaͤchs der indiſchen Zone ſcheinen — aber nicht die goͤttliche Liebe und Treue, welche ſich darin verkoͤrpert. Leſen Sie den Tſchi-King, das Liederbuch der Chineſen *), mit deſſen Ueber¬ *) Dieſe Anfuͤhrung iſt aus Menzel's Literaturblatt.

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Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/246>, abgerufen am 23.04.2024.