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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

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tischen Schule, an deren Spitze Viktor Hugo
steht, und die ohne Zweifel an poetischem Gehalt
die altfranzösisch klassische überflügelt, spielt die
Rhetorik, die Floskelei, die Tiradensucht die Haupt¬
rolle. Was sind die französischen Poeten gegen
die französischen Prosaiker, welche Sterne des
Parnassus kann man einem Büffon, Rousseau,
Diderot, Voltaire, Chateaubriand und Andern ent¬
gegenstellen? Im Deutschen möchte der Fall um¬
gekehrt sein, den europäischen Ruhm unserer Lite¬
ratur verdanken wir unsern Dichtern und ich
glaube mit Recht. Abstrahiren wir von den tief¬
sinnigen Gedanken, von den wissenschaftlichen Sy¬
stemen, welche unsere Prosa seit 50 Jahren ent¬
wickelt hat -- wir wollen uns diesen Ruhm nicht
schmälern, aber wir wollen nur bedenken, welch
ein geringer Theil der Nation von diesem Tief¬
sinn, dieser Wissenschaftlichkeit Frucht gezogen hat
-- was bleibt uns nach; sei es politisch oder mo¬
ralisch oder sonst was in Prosa, was wir gegen
die Werke unserer Poesie, gegen nur einen einzi¬
gen Dichter, wie Goethe, ja gegen nur ein ein¬
ziges Gedicht, wie den Faust in die Schanze
schlagen möchten? Ich wüßte es nicht. Es kann
aber auch nicht anders sein, als daß bisher die
deutsche Poesie die Prosa hinter sich ließ. Ich
glaube den Grund schon einmal angedeutet zu ha¬

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tiſchen Schule, an deren Spitze Viktor Hugo
ſteht, und die ohne Zweifel an poetiſchem Gehalt
die altfranzoͤſiſch klaſſiſche uͤberfluͤgelt, ſpielt die
Rhetorik, die Floskelei, die Tiradenſucht die Haupt¬
rolle. Was ſind die franzoͤſiſchen Poeten gegen
die franzoͤſiſchen Proſaiker, welche Sterne des
Parnaſſus kann man einem Buͤffon, Rouſſeau,
Diderot, Voltaire, Chateaubriand und Andern ent¬
gegenſtellen? Im Deutſchen moͤchte der Fall um¬
gekehrt ſein, den europaͤiſchen Ruhm unſerer Lite¬
ratur verdanken wir unſern Dichtern und ich
glaube mit Recht. Abſtrahiren wir von den tief¬
ſinnigen Gedanken, von den wiſſenſchaftlichen Sy¬
ſtemen, welche unſere Proſa ſeit 50 Jahren ent¬
wickelt hat — wir wollen uns dieſen Ruhm nicht
ſchmaͤlern, aber wir wollen nur bedenken, welch
ein geringer Theil der Nation von dieſem Tief¬
ſinn, dieſer Wiſſenſchaftlichkeit Frucht gezogen hat
— was bleibt uns nach; ſei es politiſch oder mo¬
raliſch oder ſonſt was in Proſa, was wir gegen
die Werke unſerer Poeſie, gegen nur einen einzi¬
gen Dichter, wie Goethe, ja gegen nur ein ein¬
ziges Gedicht, wie den Fauſt in die Schanze
ſchlagen moͤchten? Ich wuͤßte es nicht. Es kann
aber auch nicht anders ſein, als daß bisher die
deutſche Poeſie die Proſa hinter ſich ließ. Ich
glaube den Grund ſchon einmal angedeutet zu ha¬

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[227/0241] tiſchen Schule, an deren Spitze Viktor Hugo ſteht, und die ohne Zweifel an poetiſchem Gehalt die altfranzoͤſiſch klaſſiſche uͤberfluͤgelt, ſpielt die Rhetorik, die Floskelei, die Tiradenſucht die Haupt¬ rolle. Was ſind die franzoͤſiſchen Poeten gegen die franzoͤſiſchen Proſaiker, welche Sterne des Parnaſſus kann man einem Buͤffon, Rouſſeau, Diderot, Voltaire, Chateaubriand und Andern ent¬ gegenſtellen? Im Deutſchen moͤchte der Fall um¬ gekehrt ſein, den europaͤiſchen Ruhm unſerer Lite¬ ratur verdanken wir unſern Dichtern und ich glaube mit Recht. Abſtrahiren wir von den tief¬ ſinnigen Gedanken, von den wiſſenſchaftlichen Sy¬ ſtemen, welche unſere Proſa ſeit 50 Jahren ent¬ wickelt hat — wir wollen uns dieſen Ruhm nicht ſchmaͤlern, aber wir wollen nur bedenken, welch ein geringer Theil der Nation von dieſem Tief¬ ſinn, dieſer Wiſſenſchaftlichkeit Frucht gezogen hat — was bleibt uns nach; ſei es politiſch oder mo¬ raliſch oder ſonſt was in Proſa, was wir gegen die Werke unſerer Poeſie, gegen nur einen einzi¬ gen Dichter, wie Goethe, ja gegen nur ein ein¬ ziges Gedicht, wie den Fauſt in die Schanze ſchlagen moͤchten? Ich wuͤßte es nicht. Es kann aber auch nicht anders ſein, als daß bisher die deutſche Poeſie die Proſa hinter ſich ließ. Ich glaube den Grund ſchon einmal angedeutet zu ha¬ 15 *

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Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/241>, abgerufen am 28.03.2024.