Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

wir zugleich, daß das eigentliche und wahre Leben
dieser Ideen, der Güte, der Gerechtigkeit, der
Weisheit, der Tapferkeit nur in einer gewissen
eigenthümlichen Beschränkung, so und so gefärbt
und ausgeprägt, seinen Bestand habe, was grade
das Charakteristische der Zeit und des Volkes aus¬
macht und was wir die jedesmalige Weltanschau¬
ung genannt haben. Nun wäre es ja ein Aber¬
witz, das sittliche Leben der Indier, nach dem
Sittengesetz der Griechen, dieses nach der evange¬
lischen Moral des Testaments, Alle nach dem Mo¬
ralkompendium eines deutschen Professors zu beur¬
theilen und zu richten -- ein Aberwitz freilich, den
man oft genug findet, der aber die ganze Ge¬
schichte mit all ihrer Größe, Erhabenheit und gött¬
lichen Mannigfaltigkeit in dem Mühlwerk einer be¬
schränkten Ansicht zerstampft und des Herrn Geist
und Werke so wenig begreift, wie ein Maulwurf
den Straßburger Münster oder ein bigotter Heng¬
stenberg und Tholuck die griechische Iliade und den
Jupiter des Phidias. Bedenken wir also den
Satz, daß die Moral der Völker nicht minder ein
geschichtliches Produkt sei, als die Kunst und die
Poesie der Völker, und daher auch nicht minder
verschieden und wechselnd, als diese, so müssen
wir die Behauptung, es gäbe nur eine Moral,
wenn sie Sinn, Verstand und Wahrheit haben

wir zugleich, daß das eigentliche und wahre Leben
dieſer Ideen, der Guͤte, der Gerechtigkeit, der
Weisheit, der Tapferkeit nur in einer gewiſſen
eigenthuͤmlichen Beſchraͤnkung, ſo und ſo gefaͤrbt
und ausgepraͤgt, ſeinen Beſtand habe, was grade
das Charakteriſtiſche der Zeit und des Volkes aus¬
macht und was wir die jedesmalige Weltanſchau¬
ung genannt haben. Nun waͤre es ja ein Aber¬
witz, das ſittliche Leben der Indier, nach dem
Sittengeſetz der Griechen, dieſes nach der evange¬
liſchen Moral des Teſtaments, Alle nach dem Mo¬
ralkompendium eines deutſchen Profeſſors zu beur¬
theilen und zu richten — ein Aberwitz freilich, den
man oft genug findet, der aber die ganze Ge¬
ſchichte mit all ihrer Groͤße, Erhabenheit und goͤtt¬
lichen Mannigfaltigkeit in dem Muͤhlwerk einer be¬
ſchraͤnkten Anſicht zerſtampft und des Herrn Geiſt
und Werke ſo wenig begreift, wie ein Maulwurf
den Straßburger Muͤnſter oder ein bigotter Heng¬
ſtenberg und Tholuck die griechiſche Iliade und den
Jupiter des Phidias. Bedenken wir alſo den
Satz, daß die Moral der Voͤlker nicht minder ein
geſchichtliches Produkt ſei, als die Kunſt und die
Poeſie der Voͤlker, und daher auch nicht minder
verſchieden und wechſelnd, als dieſe, ſo muͤſſen
wir die Behauptung, es gaͤbe nur eine Moral,
wenn ſie Sinn, Verſtand und Wahrheit haben

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0195" n="181"/>
wir zugleich, daß das eigentliche und wahre Leben<lb/>
die&#x017F;er Ideen, der Gu&#x0364;te, der Gerechtigkeit, der<lb/>
Weisheit, der Tapferkeit nur in einer gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
eigenthu&#x0364;mlichen Be&#x017F;chra&#x0364;nkung, &#x017F;o und &#x017F;o gefa&#x0364;rbt<lb/>
und ausgepra&#x0364;gt, &#x017F;einen Be&#x017F;tand habe, was grade<lb/>
das Charakteri&#x017F;ti&#x017F;che der Zeit und des Volkes aus¬<lb/>
macht und was wir die jedesmalige Weltan&#x017F;chau¬<lb/>
ung genannt haben. Nun wa&#x0364;re es ja ein Aber¬<lb/>
witz, das &#x017F;ittliche Leben der Indier, nach dem<lb/>
Sittenge&#x017F;etz der Griechen, die&#x017F;es nach der evange¬<lb/>
li&#x017F;chen Moral des Te&#x017F;taments, Alle nach dem Mo¬<lb/>
ralkompendium eines deut&#x017F;chen Profe&#x017F;&#x017F;ors zu beur¬<lb/>
theilen und zu richten &#x2014; ein Aberwitz freilich, den<lb/>
man oft genug findet, der aber die ganze Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte mit all ihrer Gro&#x0364;ße, Erhabenheit und go&#x0364;tt¬<lb/>
lichen Mannigfaltigkeit in dem Mu&#x0364;hlwerk einer be¬<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nkten An&#x017F;icht zer&#x017F;tampft und des Herrn Gei&#x017F;t<lb/>
und Werke &#x017F;o wenig begreift, wie ein Maulwurf<lb/>
den Straßburger Mu&#x0364;n&#x017F;ter oder ein bigotter Heng¬<lb/>
&#x017F;tenberg und Tholuck die griechi&#x017F;che Iliade und den<lb/>
Jupiter des Phidias. Bedenken wir al&#x017F;o den<lb/>
Satz, daß die Moral der Vo&#x0364;lker nicht minder ein<lb/>
ge&#x017F;chichtliches Produkt &#x017F;ei, als die Kun&#x017F;t und die<lb/>
Poe&#x017F;ie der Vo&#x0364;lker, und daher auch nicht minder<lb/>
ver&#x017F;chieden und wech&#x017F;elnd, als die&#x017F;e, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
wir die Behauptung, es ga&#x0364;be nur eine Moral,<lb/>
wenn &#x017F;ie Sinn, Ver&#x017F;tand und Wahrheit haben<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[181/0195] wir zugleich, daß das eigentliche und wahre Leben dieſer Ideen, der Guͤte, der Gerechtigkeit, der Weisheit, der Tapferkeit nur in einer gewiſſen eigenthuͤmlichen Beſchraͤnkung, ſo und ſo gefaͤrbt und ausgepraͤgt, ſeinen Beſtand habe, was grade das Charakteriſtiſche der Zeit und des Volkes aus¬ macht und was wir die jedesmalige Weltanſchau¬ ung genannt haben. Nun waͤre es ja ein Aber¬ witz, das ſittliche Leben der Indier, nach dem Sittengeſetz der Griechen, dieſes nach der evange¬ liſchen Moral des Teſtaments, Alle nach dem Mo¬ ralkompendium eines deutſchen Profeſſors zu beur¬ theilen und zu richten — ein Aberwitz freilich, den man oft genug findet, der aber die ganze Ge¬ ſchichte mit all ihrer Groͤße, Erhabenheit und goͤtt¬ lichen Mannigfaltigkeit in dem Muͤhlwerk einer be¬ ſchraͤnkten Anſicht zerſtampft und des Herrn Geiſt und Werke ſo wenig begreift, wie ein Maulwurf den Straßburger Muͤnſter oder ein bigotter Heng¬ ſtenberg und Tholuck die griechiſche Iliade und den Jupiter des Phidias. Bedenken wir alſo den Satz, daß die Moral der Voͤlker nicht minder ein geſchichtliches Produkt ſei, als die Kunſt und die Poeſie der Voͤlker, und daher auch nicht minder verſchieden und wechſelnd, als dieſe, ſo muͤſſen wir die Behauptung, es gaͤbe nur eine Moral, wenn ſie Sinn, Verſtand und Wahrheit haben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/195
Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/195>, abgerufen am 19.04.2024.