Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Gebot einer künstlichen, mißverstandenen Pflicht,
er hört sie, überhört sie, flieht, macht ein edles
Wesen, sich selbst im Grunde der Seele unglück¬
lich, triumphirt aber als guter Kantianer über den
Sieg der Pflicht über die Leidenschaft, nach un¬
serm Gefühl der sophistischen Unnatur über die
menschliche Natur, welche uns unbewußter und
leiser, aber desto richtiger die Pfade des Lebens
führt, als ein willkührliches und erdichtetes Mo¬
ralgesetz, als ein Götzenbild unserer Philosophie.

Untersuchen wir nun, worauf die Herabsetzung
des Aesthetischen in dieser Ansicht beruht, so fin¬
den wir, daß eine völlige Verkennung sowohl des
Schönen als des Sittlichen ihre Quelle ist. We¬
sen, die schön denken und schön handeln, ist das
Gute mit dem Schönen völlig identisch. Allein,
wenn das Leben verdirbt und von der Schönheit
nur die Kunst nachbleibt, so taucht eine Moral
auf, die um so unerbittlicher den Rest schöner Nei¬
gungen bekämpft, als diese wirklich, aus ihrem
Zusammenhang mit dem Leben gerissen, nur zu
oft in Gefahr stehen, dem bloßen sinnlichen Trieb
anheim zu fallen und durch gemeine Beisätze ent¬
adelt zu werden. Niemand hat in solcher Zeit
den rechten Muth, sich seiner Natur zu überlassen,
als ob Jeder fürchtete, sich in seiner Blöße zu

Wienbarg, ästhet. Feldz. 11

Gebot einer kuͤnſtlichen, mißverſtandenen Pflicht,
er hoͤrt ſie, uͤberhoͤrt ſie, flieht, macht ein edles
Weſen, ſich ſelbſt im Grunde der Seele ungluͤck¬
lich, triumphirt aber als guter Kantianer uͤber den
Sieg der Pflicht uͤber die Leidenſchaft, nach un¬
ſerm Gefuͤhl der ſophiſtiſchen Unnatur uͤber die
menſchliche Natur, welche uns unbewußter und
leiſer, aber deſto richtiger die Pfade des Lebens
fuͤhrt, als ein willkuͤhrliches und erdichtetes Mo¬
ralgeſetz, als ein Goͤtzenbild unſerer Philoſophie.

Unterſuchen wir nun, worauf die Herabſetzung
des Aeſthetiſchen in dieſer Anſicht beruht, ſo fin¬
den wir, daß eine voͤllige Verkennung ſowohl des
Schoͤnen als des Sittlichen ihre Quelle iſt. We¬
ſen, die ſchoͤn denken und ſchoͤn handeln, iſt das
Gute mit dem Schoͤnen voͤllig identiſch. Allein,
wenn das Leben verdirbt und von der Schoͤnheit
nur die Kunſt nachbleibt, ſo taucht eine Moral
auf, die um ſo unerbittlicher den Reſt ſchoͤner Nei¬
gungen bekaͤmpft, als dieſe wirklich, aus ihrem
Zuſammenhang mit dem Leben geriſſen, nur zu
oft in Gefahr ſtehen, dem bloßen ſinnlichen Trieb
anheim zu fallen und durch gemeine Beiſaͤtze ent¬
adelt zu werden. Niemand hat in ſolcher Zeit
den rechten Muth, ſich ſeiner Natur zu uͤberlaſſen,
als ob Jeder fuͤrchtete, ſich in ſeiner Bloͤße zu

Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 11
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0175" n="161"/>
Gebot einer ku&#x0364;n&#x017F;tlichen, mißver&#x017F;tandenen Pflicht,<lb/>
er ho&#x0364;rt &#x017F;ie, u&#x0364;berho&#x0364;rt &#x017F;ie, flieht, macht ein edles<lb/>
We&#x017F;en, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t im Grunde der Seele unglu&#x0364;ck¬<lb/>
lich, triumphirt aber als guter Kantianer u&#x0364;ber den<lb/>
Sieg der Pflicht u&#x0364;ber die Leiden&#x017F;chaft, nach un¬<lb/>
&#x017F;erm Gefu&#x0364;hl der &#x017F;ophi&#x017F;ti&#x017F;chen Unnatur u&#x0364;ber die<lb/>
men&#x017F;chliche Natur, welche uns unbewußter und<lb/>
lei&#x017F;er, aber de&#x017F;to richtiger die Pfade des Lebens<lb/>
fu&#x0364;hrt, als ein willku&#x0364;hrliches und erdichtetes Mo¬<lb/>
ralge&#x017F;etz, als ein Go&#x0364;tzenbild un&#x017F;erer Philo&#x017F;ophie.</p><lb/>
        <p>Unter&#x017F;uchen wir nun, worauf die Herab&#x017F;etzung<lb/>
des Ae&#x017F;theti&#x017F;chen in die&#x017F;er An&#x017F;icht beruht, &#x017F;o fin¬<lb/>
den wir, daß eine vo&#x0364;llige Verkennung &#x017F;owohl des<lb/>
Scho&#x0364;nen als des Sittlichen ihre Quelle i&#x017F;t. We¬<lb/>
&#x017F;en, die &#x017F;cho&#x0364;n denken und &#x017F;cho&#x0364;n handeln, i&#x017F;t das<lb/>
Gute mit dem Scho&#x0364;nen vo&#x0364;llig identi&#x017F;ch. Allein,<lb/>
wenn das Leben verdirbt und von der Scho&#x0364;nheit<lb/>
nur die Kun&#x017F;t nachbleibt, &#x017F;o taucht eine Moral<lb/>
auf, die um &#x017F;o unerbittlicher den Re&#x017F;t &#x017F;cho&#x0364;ner Nei¬<lb/>
gungen beka&#x0364;mpft, als die&#x017F;e wirklich, aus ihrem<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang mit dem Leben geri&#x017F;&#x017F;en, nur zu<lb/>
oft in Gefahr &#x017F;tehen, dem bloßen &#x017F;innlichen Trieb<lb/>
anheim zu fallen und durch gemeine Bei&#x017F;a&#x0364;tze ent¬<lb/>
adelt zu werden. Niemand hat in &#x017F;olcher Zeit<lb/>
den rechten Muth, &#x017F;ich &#x017F;einer Natur zu u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
als ob Jeder fu&#x0364;rchtete, &#x017F;ich in &#x017F;einer Blo&#x0364;ße zu<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Wienbarg, a&#x0364;&#x017F;thet. Feldz. 11<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[161/0175] Gebot einer kuͤnſtlichen, mißverſtandenen Pflicht, er hoͤrt ſie, uͤberhoͤrt ſie, flieht, macht ein edles Weſen, ſich ſelbſt im Grunde der Seele ungluͤck¬ lich, triumphirt aber als guter Kantianer uͤber den Sieg der Pflicht uͤber die Leidenſchaft, nach un¬ ſerm Gefuͤhl der ſophiſtiſchen Unnatur uͤber die menſchliche Natur, welche uns unbewußter und leiſer, aber deſto richtiger die Pfade des Lebens fuͤhrt, als ein willkuͤhrliches und erdichtetes Mo¬ ralgeſetz, als ein Goͤtzenbild unſerer Philoſophie. Unterſuchen wir nun, worauf die Herabſetzung des Aeſthetiſchen in dieſer Anſicht beruht, ſo fin¬ den wir, daß eine voͤllige Verkennung ſowohl des Schoͤnen als des Sittlichen ihre Quelle iſt. We¬ ſen, die ſchoͤn denken und ſchoͤn handeln, iſt das Gute mit dem Schoͤnen voͤllig identiſch. Allein, wenn das Leben verdirbt und von der Schoͤnheit nur die Kunſt nachbleibt, ſo taucht eine Moral auf, die um ſo unerbittlicher den Reſt ſchoͤner Nei¬ gungen bekaͤmpft, als dieſe wirklich, aus ihrem Zuſammenhang mit dem Leben geriſſen, nur zu oft in Gefahr ſtehen, dem bloßen ſinnlichen Trieb anheim zu fallen und durch gemeine Beiſaͤtze ent¬ adelt zu werden. Niemand hat in ſolcher Zeit den rechten Muth, ſich ſeiner Natur zu uͤberlaſſen, als ob Jeder fuͤrchtete, ſich in ſeiner Bloͤße zu Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 11

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/175
Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/175>, abgerufen am 23.04.2024.