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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

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indischen Weltanschauung zum Grunde lag. Den¬
noch haben wir es bezeichnet als ein ästhetisches,
obwohl es in unserm und griechischem Sinne der
Aesthetik gradezu als unästhetisch erscheint. Allein
eben so gut, wie wir die Poesie in indischen Ge¬
dichten Poesie nennen, und zur Anerkennung der¬
selben uns genöthigt fühlen, eben so gut dürfen
und müssen wir jene Grundansicht, die auch der
Poesie vorschwebt, als ästhetisch bezeichnen, weil
sie auf einem ästhetischen Punkt wenigstens be¬
ginnt und von ihm ausgeht: nämlich von einem
bestimmten Grundgefühl des Lebens, das ein¬
mal vorhanden war, mögen wir dasselbe gegenwärtig
theilen oder nicht.

Nur kann uns keine Pietät gegen die Ge¬
schichte und gegen die geistigen Aeußerungen eines
der Urvölker des Menschengeschlechts die Freiheit
benehmen, nach unsern Ansichten und Grundge¬
fühlen sowohl das Prinzip selbst, als dessen Ein¬
fluß auf Leben, Kunst und Poesie zu beurtheilen.
Der in den indischen Dichtungen herrschende Ge¬
schmack ist für uns ein Ungeschmack und als sol¬
chen hat ihn auch Goethe gegen die Anpreisung
der modernen Inder dargestellt. Wir verlangen
für Poesie und Kunst vor allen Dingen Charak¬
tere mit scharfbegrenzter Individualität, sie sollen
ihren Geist auf bestimmte Zwecke richten, deren

indiſchen Weltanſchauung zum Grunde lag. Den¬
noch haben wir es bezeichnet als ein aͤſthetiſches,
obwohl es in unſerm und griechiſchem Sinne der
Aeſthetik gradezu als unaͤſthetiſch erſcheint. Allein
eben ſo gut, wie wir die Poeſie in indiſchen Ge¬
dichten Poeſie nennen, und zur Anerkennung der¬
ſelben uns genoͤthigt fuͤhlen, eben ſo gut duͤrfen
und muͤſſen wir jene Grundanſicht, die auch der
Poeſie vorſchwebt, als aͤſthetiſch bezeichnen, weil
ſie auf einem aͤſthetiſchen Punkt wenigſtens be¬
ginnt und von ihm ausgeht: naͤmlich von einem
beſtimmten Grundgefuͤhl des Lebens, das ein¬
mal vorhanden war, moͤgen wir daſſelbe gegenwaͤrtig
theilen oder nicht.

Nur kann uns keine Pietaͤt gegen die Ge¬
ſchichte und gegen die geiſtigen Aeußerungen eines
der Urvoͤlker des Menſchengeſchlechts die Freiheit
benehmen, nach unſern Anſichten und Grundge¬
fuͤhlen ſowohl das Prinzip ſelbſt, als deſſen Ein¬
fluß auf Leben, Kunſt und Poeſie zu beurtheilen.
Der in den indiſchen Dichtungen herrſchende Ge¬
ſchmack iſt fuͤr uns ein Ungeſchmack und als ſol¬
chen hat ihn auch Goethe gegen die Anpreiſung
der modernen Inder dargeſtellt. Wir verlangen
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[93/0107] indiſchen Weltanſchauung zum Grunde lag. Den¬ noch haben wir es bezeichnet als ein aͤſthetiſches, obwohl es in unſerm und griechiſchem Sinne der Aeſthetik gradezu als unaͤſthetiſch erſcheint. Allein eben ſo gut, wie wir die Poeſie in indiſchen Ge¬ dichten Poeſie nennen, und zur Anerkennung der¬ ſelben uns genoͤthigt fuͤhlen, eben ſo gut duͤrfen und muͤſſen wir jene Grundanſicht, die auch der Poeſie vorſchwebt, als aͤſthetiſch bezeichnen, weil ſie auf einem aͤſthetiſchen Punkt wenigſtens be¬ ginnt und von ihm ausgeht: naͤmlich von einem beſtimmten Grundgefuͤhl des Lebens, das ein¬ mal vorhanden war, moͤgen wir daſſelbe gegenwaͤrtig theilen oder nicht. Nur kann uns keine Pietaͤt gegen die Ge¬ ſchichte und gegen die geiſtigen Aeußerungen eines der Urvoͤlker des Menſchengeſchlechts die Freiheit benehmen, nach unſern Anſichten und Grundge¬ fuͤhlen ſowohl das Prinzip ſelbſt, als deſſen Ein¬ fluß auf Leben, Kunſt und Poeſie zu beurtheilen. Der in den indiſchen Dichtungen herrſchende Ge¬ ſchmack iſt fuͤr uns ein Ungeſchmack und als ſol¬ chen hat ihn auch Goethe gegen die Anpreiſung der modernen Inder dargeſtellt. Wir verlangen fuͤr Poeſie und Kunſt vor allen Dingen Charak¬ tere mit ſcharfbegrenzter Individualitaͤt, ſie ſollen ihren Geiſt auf beſtimmte Zwecke richten, deren

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Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/107>, abgerufen am 23.04.2024.