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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

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ter über sich. Nach Verschiedenheit der Indivi¬
dualitäten sind die ästhetischen Gefühle und Ur¬
theile so verschieden, wie die menschlichen Grund¬
naturen; alle vereinigen sich wieder in gewissen
Grundgefühlen, Ansichten und Urtheilen, welche
den besondern Charakter eines Volks, einer ge¬
schichtlichen Epoche ausmachen.

Schlagen wir zunächst unsere Blicke auf jene
uralte indische Welt, von deren Größe uns nur
ein armseliger Schatten übrig geblieben; betrachten
wir jene träumerischen Menschen, welche die Ufer
des Ganges bevölkerten und gleich menschlichen
Sinnpflanzen unter Lotos und Bananen blühten.
Große Werke der Religion, Philosophie, Poesie
und Kunst haben sie uns hinterlassen, zu deren
Verständniß erst die neueren Zeiten den Schlüssel
geliefert. Dennoch können wir über das Verständ¬
niß nicht so recht zum Genuß derselben durchdrin¬
gen -- die ästhetische Grundanschauung der Inder
ist zu verschieden von der unsrigen. Legen wir
den Maßstab unserer Moral und Aesthetik an die
Moral und Aesthetik der Inder, so offenbart sich
das entschiedenste Mißverhältniß, obgleich wir be¬
kennen müssen, es spreche sich wirkliche Natur und
wirklicher menschlicher Zustand nicht weniger im
Indischen, als im Europäischen aus. Bedenken
wir uns nun jenes ästhetische Grundprinzip, das

ter uͤber ſich. Nach Verſchiedenheit der Indivi¬
dualitaͤten ſind die aͤſthetiſchen Gefuͤhle und Ur¬
theile ſo verſchieden, wie die menſchlichen Grund¬
naturen; alle vereinigen ſich wieder in gewiſſen
Grundgefuͤhlen, Anſichten und Urtheilen, welche
den beſondern Charakter eines Volks, einer ge¬
ſchichtlichen Epoche ausmachen.

Schlagen wir zunaͤchſt unſere Blicke auf jene
uralte indiſche Welt, von deren Groͤße uns nur
ein armſeliger Schatten uͤbrig geblieben; betrachten
wir jene traͤumeriſchen Menſchen, welche die Ufer
des Ganges bevoͤlkerten und gleich menſchlichen
Sinnpflanzen unter Lotos und Bananen bluͤhten.
Große Werke der Religion, Philoſophie, Poeſie
und Kunſt haben ſie uns hinterlaſſen, zu deren
Verſtaͤndniß erſt die neueren Zeiten den Schluͤſſel
geliefert. Dennoch koͤnnen wir uͤber das Verſtaͤnd¬
niß nicht ſo recht zum Genuß derſelben durchdrin¬
gen — die aͤſthetiſche Grundanſchauung der Inder
iſt zu verſchieden von der unſrigen. Legen wir
den Maßſtab unſerer Moral und Aeſthetik an die
Moral und Aeſthetik der Inder, ſo offenbart ſich
das entſchiedenſte Mißverhaͤltniß, obgleich wir be¬
kennen muͤſſen, es ſpreche ſich wirkliche Natur und
wirklicher menſchlicher Zuſtand nicht weniger im
Indiſchen, als im Europaͤiſchen aus. Bedenken
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[89/0103] ter uͤber ſich. Nach Verſchiedenheit der Indivi¬ dualitaͤten ſind die aͤſthetiſchen Gefuͤhle und Ur¬ theile ſo verſchieden, wie die menſchlichen Grund¬ naturen; alle vereinigen ſich wieder in gewiſſen Grundgefuͤhlen, Anſichten und Urtheilen, welche den beſondern Charakter eines Volks, einer ge¬ ſchichtlichen Epoche ausmachen. Schlagen wir zunaͤchſt unſere Blicke auf jene uralte indiſche Welt, von deren Groͤße uns nur ein armſeliger Schatten uͤbrig geblieben; betrachten wir jene traͤumeriſchen Menſchen, welche die Ufer des Ganges bevoͤlkerten und gleich menſchlichen Sinnpflanzen unter Lotos und Bananen bluͤhten. Große Werke der Religion, Philoſophie, Poeſie und Kunſt haben ſie uns hinterlaſſen, zu deren Verſtaͤndniß erſt die neueren Zeiten den Schluͤſſel geliefert. Dennoch koͤnnen wir uͤber das Verſtaͤnd¬ niß nicht ſo recht zum Genuß derſelben durchdrin¬ gen — die aͤſthetiſche Grundanſchauung der Inder iſt zu verſchieden von der unſrigen. Legen wir den Maßſtab unſerer Moral und Aeſthetik an die Moral und Aeſthetik der Inder, ſo offenbart ſich das entſchiedenſte Mißverhaͤltniß, obgleich wir be¬ kennen muͤſſen, es ſpreche ſich wirkliche Natur und wirklicher menſchlicher Zuſtand nicht weniger im Indiſchen, als im Europaͤiſchen aus. Bedenken wir uns nun jenes aͤſthetiſche Grundprinzip, das

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Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/103>, abgerufen am 29.03.2024.