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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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Aphasie in centrifugale und centripetale schon sehr ähnliche An-
sichten ausgesprochen. Das Abweichende meiner Auffassung von
den früheren besteht aber in der durchweg festgehaltenen ana-
tomischen Grundlage. Es ist ein bedeutender Unterschied, theo-
retisch verschiedene Centra zu fingiren: (Coordinationseentrum, Be-
griffscentrum etc.) und von anatomischen Unterlagen dafür gänzlich
abzusehen, angeblich, weil die durchaus unbekannten Functionen
des Gehirnes zur Zeit noch nicht zu anatomischen Schlüssen be-
rechtigten, oder nach eingehendstem Studium der Gehirnanatomie
und auf den jetzt fast allgemein anerkannten Grundsätzen der
Erfahrungspsychologie fussend die anatomischen Daten in psycho-
logische umzusetzen und aus derartigem Materiale eine Theorie
zu construiren. Meine Erklärung des Sprachvorganges ist nur
die specielle Anwendung eines in seinen Grundzügen schon fest-
stehenden Vorganges, der spontanen Bewegung nämlich, auf die
zum Sprechen nöthigen Bewegungen. Die sensorische Function
des Hinterhauptsschläfelappens, die motorische des Stirnhirnes
liefern die einzelnen Bausteine; und auch dasjenige, was noch
des anatomischen Nachweises bedürftig ist, nämlich die Verlegung
der Klangbilder in die I. Schläfewindung, findet (abgesehen von
den Sectionsbefunden) eine unbestreitbare anatomische Fürsprache
in der Gemeinsamkeit der Verbindungen, welche sich sowohl in
dem Bestehen der Vormauer, als in dem der Fibrae propriae
ausspricht.

Es ist die Frage, ob es berechtigt ist, noch nicht abge-
schlossene Ergebnisse anatomischer und physiologischer Forschung
zur Aufstellung einer neuen Theorie zu verwerthen. Die Beant-
wortung mag dem Leser überlassen bleiben, dem ich im Vor-
stehenden das Material dazu selbst in die Hand zu geben gesucht
und dem ich keine Lücke verschwiegen oder beschönigt habe.
Bedenkt man jedoch, wie kühn und wie fruchtbar das vorhandene
ebenfalls noch unfertige physiologische Material in einigen alten
Handbüchern, z. B. dem Romberg auf die Praxis übertragen wor-
den ist, so wird man den Versuch, dasselbe im Gebiete der Ge-
hirnpathologie endlich einmal zu wagen, nicht verdammen können.
Unsere Rechtfertigung liegt aber noch in anderen wesentlicheren
Momenten.

Es ist nirgends, so nahe bei dem behandelten Gebiete die
Versuchung dazu lag, über die einfachste, wohl kaum noch ernst-
lich anzufechtende Hypothese hinausgegangen worden, nach welcher

Aphasie in centrifugale und centripetale schon sehr ähnliche An-
sichten ausgesprochen. Das Abweichende meiner Auffassung von
den früheren besteht aber in der durchweg festgehaltenen ana-
tomischen Grundlage. Es ist ein bedeutender Unterschied, theo-
retisch verschiedene Centra zu fingiren: (Coordinationseentrum, Be-
griffscentrum etc.) und von anatomischen Unterlagen dafür gänzlich
abzusehen, angeblich, weil die durchaus unbekannten Functionen
des Gehirnes zur Zeit noch nicht zu anatomischen Schlüssen be-
rechtigten, oder nach eingehendstem Studium der Gehirnanatomie
und auf den jetzt fast allgemein anerkannten Grundsätzen der
Erfahrungspsychologie fussend die anatomischen Daten in psycho-
logische umzusetzen und aus derartigem Materiale eine Theorie
zu construiren. Meine Erklärung des Sprachvorganges ist nur
die specielle Anwendung eines in seinen Grundzügen schon fest-
stehenden Vorganges, der spontanen Bewegung nämlich, auf die
zum Sprechen nöthigen Bewegungen. Die sensorische Function
des Hinterhauptsschläfelappens, die motorische des Stirnhirnes
liefern die einzelnen Bausteine; und auch dasjenige, was noch
des anatomischen Nachweises bedürftig ist, nämlich die Verlegung
der Klangbilder in die I. Schläfewindung, findet (abgesehen von
den Sectionsbefunden) eine unbestreitbare anatomische Fürsprache
in der Gemeinsamkeit der Verbindungen, welche sich sowohl in
dem Bestehen der Vormauer, als in dem der Fibrae propriae
ausspricht.

Es ist die Frage, ob es berechtigt ist, noch nicht abge-
schlossene Ergebnisse anatomischer und physiologischer Forschung
zur Aufstellung einer neuen Theorie zu verwerthen. Die Beant-
wortung mag dem Leser überlassen bleiben, dem ich im Vor-
stehenden das Material dazu selbst in die Hand zu geben gesucht
und dem ich keine Lücke verschwiegen oder beschönigt habe.
Bedenkt man jedoch, wie kühn und wie fruchtbar das vorhandene
ebenfalls noch unfertige physiologische Material in einigen alten
Handbüchern, z. B. dem Romberg auf die Praxis übertragen wor-
den ist, so wird man den Versuch, dasselbe im Gebiete der Ge-
hirnpathologie endlich einmal zu wagen, nicht verdammen können.
Unsere Rechtfertigung liegt aber noch in anderen wesentlicheren
Momenten.

Es ist nirgends, so nahe bei dem behandelten Gebiete die
Versuchung dazu lag, über die einfachste, wohl kaum noch ernst-
lich anzufechtende Hypothese hinausgegangen worden, nach welcher

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[68/0072] Aphasie in centrifugale und centripetale schon sehr ähnliche An- sichten ausgesprochen. Das Abweichende meiner Auffassung von den früheren besteht aber in der durchweg festgehaltenen ana- tomischen Grundlage. Es ist ein bedeutender Unterschied, theo- retisch verschiedene Centra zu fingiren: (Coordinationseentrum, Be- griffscentrum etc.) und von anatomischen Unterlagen dafür gänzlich abzusehen, angeblich, weil die durchaus unbekannten Functionen des Gehirnes zur Zeit noch nicht zu anatomischen Schlüssen be- rechtigten, oder nach eingehendstem Studium der Gehirnanatomie und auf den jetzt fast allgemein anerkannten Grundsätzen der Erfahrungspsychologie fussend die anatomischen Daten in psycho- logische umzusetzen und aus derartigem Materiale eine Theorie zu construiren. Meine Erklärung des Sprachvorganges ist nur die specielle Anwendung eines in seinen Grundzügen schon fest- stehenden Vorganges, der spontanen Bewegung nämlich, auf die zum Sprechen nöthigen Bewegungen. Die sensorische Function des Hinterhauptsschläfelappens, die motorische des Stirnhirnes liefern die einzelnen Bausteine; und auch dasjenige, was noch des anatomischen Nachweises bedürftig ist, nämlich die Verlegung der Klangbilder in die I. Schläfewindung, findet (abgesehen von den Sectionsbefunden) eine unbestreitbare anatomische Fürsprache in der Gemeinsamkeit der Verbindungen, welche sich sowohl in dem Bestehen der Vormauer, als in dem der Fibrae propriae ausspricht. Es ist die Frage, ob es berechtigt ist, noch nicht abge- schlossene Ergebnisse anatomischer und physiologischer Forschung zur Aufstellung einer neuen Theorie zu verwerthen. Die Beant- wortung mag dem Leser überlassen bleiben, dem ich im Vor- stehenden das Material dazu selbst in die Hand zu geben gesucht und dem ich keine Lücke verschwiegen oder beschönigt habe. Bedenkt man jedoch, wie kühn und wie fruchtbar das vorhandene ebenfalls noch unfertige physiologische Material in einigen alten Handbüchern, z. B. dem Romberg auf die Praxis übertragen wor- den ist, so wird man den Versuch, dasselbe im Gebiete der Ge- hirnpathologie endlich einmal zu wagen, nicht verdammen können. Unsere Rechtfertigung liegt aber noch in anderen wesentlicheren Momenten. Es ist nirgends, so nahe bei dem behandelten Gebiete die Versuchung dazu lag, über die einfachste, wohl kaum noch ernst- lich anzufechtende Hypothese hinausgegangen worden, nach welcher

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/72>, abgerufen am 20.04.2024.