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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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Gegenstände nicht sogleich richtig benennen. Da sein Zustand mit
rechtsseitiger Hemiopie complicirt und seine Intelligenz vollkom-
men intact ist, so vermag er über den Einfluss Rechenschaft zu
geben, welchen die Hemiopie beim Lesen übt. Er giebt an, dass
er sich beim Lesen die einzelnen Buchstaben zusammensuchen
müsse und kann desswegen nur langsam lesen. Dabei passirt es
ihm, dass er auf der Strasse im Vorbeigehen sehr bequem die
Schilder liesst, und nur das fixirte Wort macht ihm Schwierigkeit.
Beim Lesen der einzelnen Buchstaben gelingen ihm die meisten;
doch hält er einmal inne und findet den Buchstaben erst, nach-
dem er sich das Alphabet bis an denselben aufgesagt hat (ein
Residuum seiner früheren Alexie). Eine vierstellige Zahl liest
er nur nach langem Besinnen und Probiren, wobei er sich die
Zehner vor den Einern klar machen muss. Diese Angaben stimmen
mit denen überein, welche oben beim Falle Beckmann zur Er-
klärung der Symptome benutzt wurden.



10.) Withold v. Salmonsky, Handlungsdiener, einige 20 Jahre
alt, wurde am 19. März 1874 ins Allerheiligen-Hospital aufge-
nommen. Daselbst hatte er einen epileptischen Anfall mit 12
Minuten lang anhaltender Bewusstlosigkeit, klagte über Rücken-
schmerzen und Schmerzen in den Armen, besonders bei Berührung.
Das Liegen auf der linken Seite war ihm schmerzhaft. Es ent-
wickelte sich eine phlegmonöse Parotitis links, welche incidirt
wurde und längere Zeit Eiterung unterhielt. Seine Ernährung
machte Rückschritte. 10--12 Tage vor seinem Tode fiel eine
Sprachstörung auf, der Gang derselben wurde leider nicht ge-
nügend beobachtet. Am 14. Mai 1874 bot er folgenden Status:
Sehr anämisches, schlecht genährtes Individuum, mit atrophischer
Muskulatur, von stupidem Gesichtsausdruck, klagt über Schmerzen
im Rücken und in der linken Kopfhälfte. Puls voll, kräftig, weich,
104. Resp. nicht beschleunigt. Lungen frei. Die rechte Gesichts-
hälfte ist abgeflacht, die Nasolabialfalte verstrichen, der rechte
Mundwinkel steht tiefer; die Störungen sind besonders beim Lachen
auffallend. Die Stirn wird gleichmässig gerunzelt, Lidschluss in-
tact, rechte Pupille erweitert, auf Licht reagirend. Keine Läh-
mung der Extremitäten zu constatiren. Klopfen auf die linke
Schläfegegend ist äusserst schmerzhaft. Hochgradige Hyperaesthesie,
auf die unteren Extremitäten beschränkt. Der Gang ist breit-
beinig und mühsam. Bei der Augenspiegeluntersuchung zeigen

Gegenstände nicht sogleich richtig benennen. Da sein Zustand mit
rechtsseitiger Hemiopie complicirt und seine Intelligenz vollkom-
men intact ist, so vermag er über den Einfluss Rechenschaft zu
geben, welchen die Hemiopie beim Lesen übt. Er giebt an, dass
er sich beim Lesen die einzelnen Buchstaben zusammensuchen
müsse und kann desswegen nur langsam lesen. Dabei passirt es
ihm, dass er auf der Strasse im Vorbeigehen sehr bequem die
Schilder liesst, und nur das fixirte Wort macht ihm Schwierigkeit.
Beim Lesen der einzelnen Buchstaben gelingen ihm die meisten;
doch hält er einmal inne und findet den Buchstaben erst, nach-
dem er sich das Alphabet bis an denselben aufgesagt hat (ein
Residuum seiner früheren Alexie). Eine vierstellige Zahl liest
er nur nach langem Besinnen und Probiren, wobei er sich die
Zehner vor den Einern klar machen muss. Diese Angaben stimmen
mit denen überein, welche oben beim Falle Beckmann zur Er-
klärung der Symptome benutzt wurden.



10.) Withold v. Salmonsky, Handlungsdiener, einige 20 Jahre
alt, wurde am 19. März 1874 ins Allerheiligen-Hospital aufge-
nommen. Daselbst hatte er einen epileptischen Anfall mit 12
Minuten lang anhaltender Bewusstlosigkeit, klagte über Rücken-
schmerzen und Schmerzen in den Armen, besonders bei Berührung.
Das Liegen auf der linken Seite war ihm schmerzhaft. Es ent-
wickelte sich eine phlegmonöse Parotitis links, welche incidirt
wurde und längere Zeit Eiterung unterhielt. Seine Ernährung
machte Rückschritte. 10—12 Tage vor seinem Tode fiel eine
Sprachstörung auf, der Gang derselben wurde leider nicht ge-
nügend beobachtet. Am 14. Mai 1874 bot er folgenden Status:
Sehr anämisches, schlecht genährtes Individuum, mit atrophischer
Muskulatur, von stupidem Gesichtsausdruck, klagt über Schmerzen
im Rücken und in der linken Kopfhälfte. Puls voll, kräftig, weich,
104. Resp. nicht beschleunigt. Lungen frei. Die rechte Gesichts-
hälfte ist abgeflacht, die Nasolabialfalte verstrichen, der rechte
Mundwinkel steht tiefer; die Störungen sind besonders beim Lachen
auffallend. Die Stirn wird gleichmässig gerunzelt, Lidschluss in-
tact, rechte Pupille erweitert, auf Licht reagirend. Keine Läh-
mung der Extremitäten zu constatiren. Klopfen auf die linke
Schläfegegend ist äusserst schmerzhaft. Hochgradige Hyperaesthesie,
auf die unteren Extremitäten beschränkt. Der Gang ist breit-
beinig und mühsam. Bei der Augenspiegeluntersuchung zeigen

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[64/0068] Gegenstände nicht sogleich richtig benennen. Da sein Zustand mit rechtsseitiger Hemiopie complicirt und seine Intelligenz vollkom- men intact ist, so vermag er über den Einfluss Rechenschaft zu geben, welchen die Hemiopie beim Lesen übt. Er giebt an, dass er sich beim Lesen die einzelnen Buchstaben zusammensuchen müsse und kann desswegen nur langsam lesen. Dabei passirt es ihm, dass er auf der Strasse im Vorbeigehen sehr bequem die Schilder liesst, und nur das fixirte Wort macht ihm Schwierigkeit. Beim Lesen der einzelnen Buchstaben gelingen ihm die meisten; doch hält er einmal inne und findet den Buchstaben erst, nach- dem er sich das Alphabet bis an denselben aufgesagt hat (ein Residuum seiner früheren Alexie). Eine vierstellige Zahl liest er nur nach langem Besinnen und Probiren, wobei er sich die Zehner vor den Einern klar machen muss. Diese Angaben stimmen mit denen überein, welche oben beim Falle Beckmann zur Er- klärung der Symptome benutzt wurden. 10.) Withold v. Salmonsky, Handlungsdiener, einige 20 Jahre alt, wurde am 19. März 1874 ins Allerheiligen-Hospital aufge- nommen. Daselbst hatte er einen epileptischen Anfall mit 12 Minuten lang anhaltender Bewusstlosigkeit, klagte über Rücken- schmerzen und Schmerzen in den Armen, besonders bei Berührung. Das Liegen auf der linken Seite war ihm schmerzhaft. Es ent- wickelte sich eine phlegmonöse Parotitis links, welche incidirt wurde und längere Zeit Eiterung unterhielt. Seine Ernährung machte Rückschritte. 10—12 Tage vor seinem Tode fiel eine Sprachstörung auf, der Gang derselben wurde leider nicht ge- nügend beobachtet. Am 14. Mai 1874 bot er folgenden Status: Sehr anämisches, schlecht genährtes Individuum, mit atrophischer Muskulatur, von stupidem Gesichtsausdruck, klagt über Schmerzen im Rücken und in der linken Kopfhälfte. Puls voll, kräftig, weich, 104. Resp. nicht beschleunigt. Lungen frei. Die rechte Gesichts- hälfte ist abgeflacht, die Nasolabialfalte verstrichen, der rechte Mundwinkel steht tiefer; die Störungen sind besonders beim Lachen auffallend. Die Stirn wird gleichmässig gerunzelt, Lidschluss in- tact, rechte Pupille erweitert, auf Licht reagirend. Keine Läh- mung der Extremitäten zu constatiren. Klopfen auf die linke Schläfegegend ist äusserst schmerzhaft. Hochgradige Hyperaesthesie, auf die unteren Extremitäten beschränkt. Der Gang ist breit- beinig und mühsam. Bei der Augenspiegeluntersuchung zeigen

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/68>, abgerufen am 29.03.2024.