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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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Gegenstandes herausfindet. Es scheint also eine Anzahl von Klang-
bildern erloschen zu sein.

Er versteht die Schriftzeichen richtig, führt einfache Aufträge,
die ihm schriftlich gegeben werden, aus. Auch die Zahlen und
die einzelnen Buchstaben sind ihm bekannt.

Die Fähigkeit zu schreiben, ist nur soweit erhalten, dass er
Alles richtig nachschreiben kann. Selbstständig oder auf Dietat
kann er nicht einmal seinen Namen, auch die meisten einzelnen
Buchstaben nicht, schreiben. Dagegen schreibt er das Alphabet
allerdings mit vielfachen Verwechselungen. Die Zahlen schreibt
er richtig hinter einander fort. Er schreibt auch gedruckte Schrift
richtig ab, und zeigt sich überhaupt von der Form der Buch-
staben unabhängig, so schreibt er in einem Worte r, statt des
vorgeschriebenen r.

Es lässt sich deutlich nachweisen, dass er keine Hemiopie
hat. Gehör und Gesicht intact, die Augenspiegeluntersuchung er-
giebt normalen Befund.



Der Fall Peter ist in vielfacher Hinsicht interessant. Zu-
nächst machte sich die Chorea vorwiegend in den rechten Extre-
mitäten geltend. Dieses Factum findet seine einfache Erklärung
in der linksseitigen Hemiplegie, welche der erste apoplectische
Anfall hinterlassen hatte, es beweisst die Richtigkeit der Mey-
nert'schen Auffassung, nach welcher die Chorea eine an die Bahn
des Hirnschenkelfusses geknüpfte Hyperkinese ist. Die Hemiplegie
war sichtlich durch den alten Erweichungsheerd bedingt, welcher
sich in der rechten Hemisphäre vorfand, aber nicht durch diesen
direct, sondern durch das seine Entstehung begleitende collaterale
Oedem. Wenn plötzlich (dafür spricht der apoplectische Anfall)
ein so umfangreicher Theil des Gehirnes von der Circulation aus-
geschlossen wird, so ist die Entstehung eines collateralen Oedems
in der nächsten Umgebung, einer collateralen Hyperämie in der
anderen Hemisphäre keine zu gewagte Annahme. Während nun
das erstere die Hemiplegie erklärt, giebt letztere die Möglichkeit,
das Auftreten der Chorea zu verstehen. Die Chorea wäre dem-
nach bedingt, durch eine Hyperämie der Hirnschenkelfussbahn in
irgend einem Theile ihres Verlaufes, ähnlich wie Hyperästhesie
experimentell durch Aufschliessen der Pia spinalis erzeugt werden
kann. (Meynert.)

Gegenstandes herausfindet. Es scheint also eine Anzahl von Klang-
bildern erloschen zu sein.

Er versteht die Schriftzeichen richtig, führt einfache Aufträge,
die ihm schriftlich gegeben werden, aus. Auch die Zahlen und
die einzelnen Buchstaben sind ihm bekannt.

Die Fähigkeit zu schreiben, ist nur soweit erhalten, dass er
Alles richtig nachschreiben kann. Selbstständig oder auf Dietat
kann er nicht einmal seinen Namen, auch die meisten einzelnen
Buchstaben nicht, schreiben. Dagegen schreibt er das Alphabet
allerdings mit vielfachen Verwechselungen. Die Zahlen schreibt
er richtig hinter einander fort. Er schreibt auch gedruckte Schrift
richtig ab, und zeigt sich überhaupt von der Form der Buch-
staben unabhängig, so schreibt er in einem Worte r, statt des
vorgeschriebenen r.

Es lässt sich deutlich nachweisen, dass er keine Hemiopie
hat. Gehör und Gesicht intact, die Augenspiegeluntersuchung er-
giebt normalen Befund.



Der Fall Peter ist in vielfacher Hinsicht interessant. Zu-
nächst machte sich die Chorea vorwiegend in den rechten Extre-
mitäten geltend. Dieses Factum findet seine einfache Erklärung
in der linksseitigen Hemiplegie, welche der erste apoplectische
Anfall hinterlassen hatte, es beweisst die Richtigkeit der Mey-
nert’schen Auffassung, nach welcher die Chorea eine an die Bahn
des Hirnschenkelfusses geknüpfte Hyperkinese ist. Die Hemiplegie
war sichtlich durch den alten Erweichungsheerd bedingt, welcher
sich in der rechten Hemisphäre vorfand, aber nicht durch diesen
direct, sondern durch das seine Entstehung begleitende collaterale
Oedem. Wenn plötzlich (dafür spricht der apoplectische Anfall)
ein so umfangreicher Theil des Gehirnes von der Circulation aus-
geschlossen wird, so ist die Entstehung eines collateralen Oedems
in der nächsten Umgebung, einer collateralen Hyperämie in der
anderen Hemisphäre keine zu gewagte Annahme. Während nun
das erstere die Hemiplegie erklärt, giebt letztere die Möglichkeit,
das Auftreten der Chorea zu verstehen. Die Chorea wäre dem-
nach bedingt, durch eine Hyperämie der Hirnschenkelfussbahn in
irgend einem Theile ihres Verlaufes, ähnlich wie Hyperästhesie
experimentell durch Aufschliessen der Pia spinalis erzeugt werden
kann. (Meynert.)

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[58/0062] Gegenstandes herausfindet. Es scheint also eine Anzahl von Klang- bildern erloschen zu sein. Er versteht die Schriftzeichen richtig, führt einfache Aufträge, die ihm schriftlich gegeben werden, aus. Auch die Zahlen und die einzelnen Buchstaben sind ihm bekannt. Die Fähigkeit zu schreiben, ist nur soweit erhalten, dass er Alles richtig nachschreiben kann. Selbstständig oder auf Dietat kann er nicht einmal seinen Namen, auch die meisten einzelnen Buchstaben nicht, schreiben. Dagegen schreibt er das Alphabet allerdings mit vielfachen Verwechselungen. Die Zahlen schreibt er richtig hinter einander fort. Er schreibt auch gedruckte Schrift richtig ab, und zeigt sich überhaupt von der Form der Buch- staben unabhängig, so schreibt er in einem Worte r, statt des vorgeschriebenen r. Es lässt sich deutlich nachweisen, dass er keine Hemiopie hat. Gehör und Gesicht intact, die Augenspiegeluntersuchung er- giebt normalen Befund. Der Fall Peter ist in vielfacher Hinsicht interessant. Zu- nächst machte sich die Chorea vorwiegend in den rechten Extre- mitäten geltend. Dieses Factum findet seine einfache Erklärung in der linksseitigen Hemiplegie, welche der erste apoplectische Anfall hinterlassen hatte, es beweisst die Richtigkeit der Mey- nert’schen Auffassung, nach welcher die Chorea eine an die Bahn des Hirnschenkelfusses geknüpfte Hyperkinese ist. Die Hemiplegie war sichtlich durch den alten Erweichungsheerd bedingt, welcher sich in der rechten Hemisphäre vorfand, aber nicht durch diesen direct, sondern durch das seine Entstehung begleitende collaterale Oedem. Wenn plötzlich (dafür spricht der apoplectische Anfall) ein so umfangreicher Theil des Gehirnes von der Circulation aus- geschlossen wird, so ist die Entstehung eines collateralen Oedems in der nächsten Umgebung, einer collateralen Hyperämie in der anderen Hemisphäre keine zu gewagte Annahme. Während nun das erstere die Hemiplegie erklärt, giebt letztere die Möglichkeit, das Auftreten der Chorea zu verstehen. Die Chorea wäre dem- nach bedingt, durch eine Hyperämie der Hirnschenkelfussbahn in irgend einem Theile ihres Verlaufes, ähnlich wie Hyperästhesie experimentell durch Aufschliessen der Pia spinalis erzeugt werden kann. (Meynert.)

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/62>, abgerufen am 19.04.2024.