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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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Im Kopfe des rechten Nucleus caudatus an der Ventrikelfläche
desselben findet sich eine etwa linsengrosse alte Cyste mit se-
rösem Inhalt.



6.) Isidor Itzigsohn, Handlungsreisender, 26 Jahre alt, wurde
am 25. März 1874 auf die medicinische Klinik anfgenommen;
ich referire den Fall mit gütiger Erlaubniss des Herrn Geheim-
rath Lebert. J. war an demselben Morgen erkrankt, und zwar
hatte sich erst Sprachlosigkeit, dann nach einigen Stunden Läh-
mung der rechten Körperhälfte eingestellt. Es liess sich zunächst
nur das Vorhandensein motorischer Aphasie constatiren, da Pat.
im Allgemeinen stupide, theilnahmslos, zu einer genaueren Fest-
stellung der Symptome nicht geeignet war. Der rechte Arm total
gelähmt, das rechte Bein beim Gange geschleppt, das Gehen
jedoch noch möglich. Die rechte Gesichtshälfte blieb bei Bewe-
gungen zurück. Sensibilität, durch Nadelstiche geprüft, erhalten,
die Reflexerregbarkeit der gelähmten Theile herabgesetzt. An den
Gefässen und am Herzen nichts Abnormes. In den nächsten
Tagen nahm die Lähmung des rechten Beines zu, der psychische
Zustand blieb unverändert. Da die Anamnese voraufgegangene
syphilitische Infection ergab, wurde eine Schmierkur angeordnet.

Der Zustand besserte sich nun rasch, so dass Pat. am 26.
April 1874 schon gehen und die rechte Hand leidlich gebrauchen
konnte. Eine an diesem Tage vorgenommene Untersuchung ergab
nun Folgendes. Pat. kann, bei voller Beweglichkeit der Zunge
und der Lippen, kein einziges Wort sprechen, nur Sylben mit
dem Buchstaben a und einem stummen Anhang, meist m, articu-
liren. Beim Versuch, ein bestimmtes Wort nachzusprechen, stimmt
sehr oft die Anzahl und der Tonfall der Sylben mit dem Worte
überein.

Er versteht alle Aufträge und Fragen, die nicht einen grösseren
Aufwand von Intelligenz erfordern, ist jedoch übermüthiger,
launenhafter Stimmung und erschwert dadurch die Untersuchung.
Doch scheint ihm der Sinn der Präpositionen zu fehlen. Er er-
hält den Auftrag, ein Buch das eine Mal auf, das andere Mal
unter das Papier zu legen, und versteht nicht, dass dies verschie-
dene Aufträge sind. Wo der Sinn unzweifelhaft ist, ergänzt er
sich die Präpositionen richtig, so, wenn er auf einen Stuhl steigen
soll. Ebenso versteht er die verschiedene Benennung der Farben
nicht, obwohl er auf einer Farbenscala richtig die Farbe jedes

Im Kopfe des rechten Nucleus caudatus an der Ventrikelfläche
desselben findet sich eine etwa linsengrosse alte Cyste mit se-
rösem Inhalt.



6.) Isidor Itzigsohn, Handlungsreisender, 26 Jahre alt, wurde
am 25. März 1874 auf die medicinische Klinik anfgenommen;
ich referire den Fall mit gütiger Erlaubniss des Herrn Geheim-
rath Lebert. J. war an demselben Morgen erkrankt, und zwar
hatte sich erst Sprachlosigkeit, dann nach einigen Stunden Läh-
mung der rechten Körperhälfte eingestellt. Es liess sich zunächst
nur das Vorhandensein motorischer Aphasie constatiren, da Pat.
im Allgemeinen stupide, theilnahmslos, zu einer genaueren Fest-
stellung der Symptome nicht geeignet war. Der rechte Arm total
gelähmt, das rechte Bein beim Gange geschleppt, das Gehen
jedoch noch möglich. Die rechte Gesichtshälfte blieb bei Bewe-
gungen zurück. Sensibilität, durch Nadelstiche geprüft, erhalten,
die Reflexerregbarkeit der gelähmten Theile herabgesetzt. An den
Gefässen und am Herzen nichts Abnormes. In den nächsten
Tagen nahm die Lähmung des rechten Beines zu, der psychische
Zustand blieb unverändert. Da die Anamnese voraufgegangene
syphilitische Infection ergab, wurde eine Schmierkur angeordnet.

Der Zustand besserte sich nun rasch, so dass Pat. am 26.
April 1874 schon gehen und die rechte Hand leidlich gebrauchen
konnte. Eine an diesem Tage vorgenommene Untersuchung ergab
nun Folgendes. Pat. kann, bei voller Beweglichkeit der Zunge
und der Lippen, kein einziges Wort sprechen, nur Sylben mit
dem Buchstaben a und einem stummen Anhang, meist m, articu-
liren. Beim Versuch, ein bestimmtes Wort nachzusprechen, stimmt
sehr oft die Anzahl und der Tonfall der Sylben mit dem Worte
überein.

Er versteht alle Aufträge und Fragen, die nicht einen grösseren
Aufwand von Intelligenz erfordern, ist jedoch übermüthiger,
launenhafter Stimmung und erschwert dadurch die Untersuchung.
Doch scheint ihm der Sinn der Präpositionen zu fehlen. Er er-
hält den Auftrag, ein Buch das eine Mal auf, das andere Mal
unter das Papier zu legen, und versteht nicht, dass dies verschie-
dene Aufträge sind. Wo der Sinn unzweifelhaft ist, ergänzt er
sich die Präpositionen richtig, so, wenn er auf einen Stuhl steigen
soll. Ebenso versteht er die verschiedene Benennung der Farben
nicht, obwohl er auf einer Farbenscala richtig die Farbe jedes

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[57/0061] Im Kopfe des rechten Nucleus caudatus an der Ventrikelfläche desselben findet sich eine etwa linsengrosse alte Cyste mit se- rösem Inhalt. 6.) Isidor Itzigsohn, Handlungsreisender, 26 Jahre alt, wurde am 25. März 1874 auf die medicinische Klinik anfgenommen; ich referire den Fall mit gütiger Erlaubniss des Herrn Geheim- rath Lebert. J. war an demselben Morgen erkrankt, und zwar hatte sich erst Sprachlosigkeit, dann nach einigen Stunden Läh- mung der rechten Körperhälfte eingestellt. Es liess sich zunächst nur das Vorhandensein motorischer Aphasie constatiren, da Pat. im Allgemeinen stupide, theilnahmslos, zu einer genaueren Fest- stellung der Symptome nicht geeignet war. Der rechte Arm total gelähmt, das rechte Bein beim Gange geschleppt, das Gehen jedoch noch möglich. Die rechte Gesichtshälfte blieb bei Bewe- gungen zurück. Sensibilität, durch Nadelstiche geprüft, erhalten, die Reflexerregbarkeit der gelähmten Theile herabgesetzt. An den Gefässen und am Herzen nichts Abnormes. In den nächsten Tagen nahm die Lähmung des rechten Beines zu, der psychische Zustand blieb unverändert. Da die Anamnese voraufgegangene syphilitische Infection ergab, wurde eine Schmierkur angeordnet. Der Zustand besserte sich nun rasch, so dass Pat. am 26. April 1874 schon gehen und die rechte Hand leidlich gebrauchen konnte. Eine an diesem Tage vorgenommene Untersuchung ergab nun Folgendes. Pat. kann, bei voller Beweglichkeit der Zunge und der Lippen, kein einziges Wort sprechen, nur Sylben mit dem Buchstaben a und einem stummen Anhang, meist m, articu- liren. Beim Versuch, ein bestimmtes Wort nachzusprechen, stimmt sehr oft die Anzahl und der Tonfall der Sylben mit dem Worte überein. Er versteht alle Aufträge und Fragen, die nicht einen grösseren Aufwand von Intelligenz erfordern, ist jedoch übermüthiger, launenhafter Stimmung und erschwert dadurch die Untersuchung. Doch scheint ihm der Sinn der Präpositionen zu fehlen. Er er- hält den Auftrag, ein Buch das eine Mal auf, das andere Mal unter das Papier zu legen, und versteht nicht, dass dies verschie- dene Aufträge sind. Wo der Sinn unzweifelhaft ist, ergänzt er sich die Präpositionen richtig, so, wenn er auf einen Stuhl steigen soll. Ebenso versteht er die verschiedene Benennung der Farben nicht, obwohl er auf einer Farbenscala richtig die Farbe jedes

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/61>, abgerufen am 25.04.2024.