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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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kann aber auch den directen Beweis davon liefern, indem es ihm
bei einiger Aufmerksamkeit gelingt, die Buchstaben, die er nicht
benennen kann, und ganze Wörter nachzuzeichnen.

Es besteht aber Agraphie; er kann Alles nachzeichnen, aber
er kann nicht selbsständig schreiben. Fast kein Buchstabe gelingt
ihm, es kommen bei aller Mühe nur Grund- und Haarstriche
heraus. Einfache Zahlen gelingen ihm besser, aber selbst die
zweistelligen Zahlen sind ihm schon eine zu schwere Aufgabe.

Eine am 25. März 1874 von Herrn Prof. Förster vorgenom-
mene genaue Bestimmung des Gesichtsfeldes beider Augen ergab
eine exquisite Hemiopie nach rechts hin. Mit dem Augenspiegel
war nichts auffallendes zu constatiren.

Bei weiterer Beobachtung stellte sich heraus, dass die Aphasie
ihrem Grade nach sehr wechselte, indem sie bald kaum merklich
war, bald sehr stark hervortrat; dass ferner fast nur Substantiva,
und unter diesen besonders Orts- und Personennamen gelegent-
lich fehlten. Gegenüber seinen nächsten Angehörigen war er viel
weniger aphasisch, als gegen fremde Personen. Am auffälligsten
ist die Aphasie immer, wenn er ärztlicher Seits examinirt wird;
mit jedem neuen Defect, der ihm dadurch ins Bewusstsein kommt,
wächst seine Aphasie.

Der Kranke befindet sich noch jetzt in Behandlung; sein
körperliches Befinden ist vortrefflich, die Aphasie scheint etwas
gebessert und hat jedenfalls sich nicht verschlimmert. Dagegen
liess sich durch eine zweite, am 9. April 1874 von Herrn Prof.
Förster vorgenommene Bestimmung des Gesichtsfeldes vermittelst
des Perimeters feststellen, dass das Gesichtsfeld eine weitere Ein-
schränkung erfahren hatte, und zwar war nach rechts hin auf
beiden Augen diejenige Partie des Gesichtsfeldes, welche zwischen
Macula lutea und P. lag, und in welcher vorher undeutlich gesehen
wurde, jetzt vollkommen erloschen; ausserdem aber war die linke
Grenze des Gesichtsfeldes bedeutend nach rechts hin verschoben.
Dadurch erwies sieh der Process als ein progressiver.

Eine im Mai d. J. wieder vorgenommene Untersuchung
ergab bedeutende Besserung. Der Kranke bot jetzt das inter-
essante Symptom, dass er ganze Wörter, wie seinen Namen, den
seiner Angehörigen, richtig las, aber die einzelnen Buchstaben
desselben nicht lesen konnte.



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kann aber auch den directen Beweis davon liefern, indem es ihm
bei einiger Aufmerksamkeit gelingt, die Buchstaben, die er nicht
benennen kann, und ganze Wörter nachzuzeichnen.

Es besteht aber Agraphie; er kann Alles nachzeichnen, aber
er kann nicht selbsständig schreiben. Fast kein Buchstabe gelingt
ihm, es kommen bei aller Mühe nur Grund- und Haarstriche
heraus. Einfache Zahlen gelingen ihm besser, aber selbst die
zweistelligen Zahlen sind ihm schon eine zu schwere Aufgabe.

Eine am 25. März 1874 von Herrn Prof. Förster vorgenom-
mene genaue Bestimmung des Gesichtsfeldes beider Augen ergab
eine exquisite Hemiopie nach rechts hin. Mit dem Augenspiegel
war nichts auffallendes zu constatiren.

Bei weiterer Beobachtung stellte sich heraus, dass die Aphasie
ihrem Grade nach sehr wechselte, indem sie bald kaum merklich
war, bald sehr stark hervortrat; dass ferner fast nur Substantiva,
und unter diesen besonders Orts- und Personennamen gelegent-
lich fehlten. Gegenüber seinen nächsten Angehörigen war er viel
weniger aphasisch, als gegen fremde Personen. Am auffälligsten
ist die Aphasie immer, wenn er ärztlicher Seits examinirt wird;
mit jedem neuen Defect, der ihm dadurch ins Bewusstsein kommt,
wächst seine Aphasie.

Der Kranke befindet sich noch jetzt in Behandlung; sein
körperliches Befinden ist vortrefflich, die Aphasie scheint etwas
gebessert und hat jedenfalls sich nicht verschlimmert. Dagegen
liess sich durch eine zweite, am 9. April 1874 von Herrn Prof.
Förster vorgenommene Bestimmung des Gesichtsfeldes vermittelst
des Perimeters feststellen, dass das Gesichtsfeld eine weitere Ein-
schränkung erfahren hatte, und zwar war nach rechts hin auf
beiden Augen diejenige Partie des Gesichtsfeldes, welche zwischen
Macula lutea und P. lag, und in welcher vorher undeutlich gesehen
wurde, jetzt vollkommen erloschen; ausserdem aber war die linke
Grenze des Gesichtsfeldes bedeutend nach rechts hin verschoben.
Dadurch erwies sieh der Process als ein progressiver.

Eine im Mai d. J. wieder vorgenommene Untersuchung
ergab bedeutende Besserung. Der Kranke bot jetzt das inter-
essante Symptom, dass er ganze Wörter, wie seinen Namen, den
seiner Angehörigen, richtig las, aber die einzelnen Buchstaben
desselben nicht lesen konnte.



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[49/0053] kann aber auch den directen Beweis davon liefern, indem es ihm bei einiger Aufmerksamkeit gelingt, die Buchstaben, die er nicht benennen kann, und ganze Wörter nachzuzeichnen. Es besteht aber Agraphie; er kann Alles nachzeichnen, aber er kann nicht selbsständig schreiben. Fast kein Buchstabe gelingt ihm, es kommen bei aller Mühe nur Grund- und Haarstriche heraus. Einfache Zahlen gelingen ihm besser, aber selbst die zweistelligen Zahlen sind ihm schon eine zu schwere Aufgabe. Eine am 25. März 1874 von Herrn Prof. Förster vorgenom- mene genaue Bestimmung des Gesichtsfeldes beider Augen ergab eine exquisite Hemiopie nach rechts hin. Mit dem Augenspiegel war nichts auffallendes zu constatiren. Bei weiterer Beobachtung stellte sich heraus, dass die Aphasie ihrem Grade nach sehr wechselte, indem sie bald kaum merklich war, bald sehr stark hervortrat; dass ferner fast nur Substantiva, und unter diesen besonders Orts- und Personennamen gelegent- lich fehlten. Gegenüber seinen nächsten Angehörigen war er viel weniger aphasisch, als gegen fremde Personen. Am auffälligsten ist die Aphasie immer, wenn er ärztlicher Seits examinirt wird; mit jedem neuen Defect, der ihm dadurch ins Bewusstsein kommt, wächst seine Aphasie. Der Kranke befindet sich noch jetzt in Behandlung; sein körperliches Befinden ist vortrefflich, die Aphasie scheint etwas gebessert und hat jedenfalls sich nicht verschlimmert. Dagegen liess sich durch eine zweite, am 9. April 1874 von Herrn Prof. Förster vorgenommene Bestimmung des Gesichtsfeldes vermittelst des Perimeters feststellen, dass das Gesichtsfeld eine weitere Ein- schränkung erfahren hatte, und zwar war nach rechts hin auf beiden Augen diejenige Partie des Gesichtsfeldes, welche zwischen Macula lutea und P. lag, und in welcher vorher undeutlich gesehen wurde, jetzt vollkommen erloschen; ausserdem aber war die linke Grenze des Gesichtsfeldes bedeutend nach rechts hin verschoben. Dadurch erwies sieh der Process als ein progressiver. Eine im Mai d. J. wieder vorgenommene Untersuchung ergab bedeutende Besserung. Der Kranke bot jetzt das inter- essante Symptom, dass er ganze Wörter, wie seinen Namen, den seiner Angehörigen, richtig las, aber die einzelnen Buchstaben desselben nicht lesen konnte. 4

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/53>, abgerufen am 25.04.2024.