Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

lappens Regel wäre, für eine vollständige Kreuzung im Chiasma
sprechen würde.*) Die beiden Seh- und Vierhügel boten keine
Differenzen der Färbung und der Grösse.



3. Folgendes ist ein prägnanter Fall von Leitungsaphasie,
dessen Zuweisung ich der Güte des Herrn Prof. Foerster verdanke.

Beckmann, Apotheker, 64 Jahre alt, bemerkte am 15. März
1874 des Morgens, nachdem er den Abend vorher einige Gläser
Bier getrunken und die Nacht über gut geschlafen hatte, dass er
nicht mehr ordentlich lesen und noch viel weniger schreiben
konnte, obgleich er Alles mit deutlichen Umrissen sah. Er reiste
deswegen am 18. März nach Breslau, um einen Augenarzt zu
consultiren. Im Laufe desselben Tages traten die ersten Sprach-
störungen ein. Nicht die leisesten Spuren gestörten Allgemein-
befindens machten sich dabei bemerklich.

Am 20. März 1874 fand ich folgenden Status: Kräftig ge-
bauter Herr, im blühendsten Ernährungszustande, mit congestionir-
tem Kopfe. Körperlich durchaus rüstig, auch objectiv noch keine
Zeichen vorgeschrittener Senescenz. Radialis nur massig rigide,
Puls kräftig, von normaler Frequenz, nach 6--10 Schlägen aus-
setzend. Weder im Gesichte noch in den Extremitäten eine Spur
von Lähmung.

Die Herzdämpfung ist nach links etwas verbreitert, die Herz-
töne nur schwach. Kein Lungenemphysem.

Er versteht alles ganz genau, antwortet auch auf Sugge-
stivfragen immer richtig. Der Gebrauch aller Gegenstände ist
ihm genau bekannt. Er zeigt auch keine Spur von motorischer
Aphasie, denn sein Wortschatz ist unbeschränkt. Doch fehlen ihm
für viele Gegenstände, die er bezeichnen will, die Worte; er müht
sich, sie zu finden, wird erregt dabei, und nennt man ihm den
Namen, so wiederholt er ihn ohne jeden Anstoss. Es ist also
derselbe Zustand, der innerhalb der physiologischen Breite bei
vielen Menschen vorkommt, und der oben als Leitungsaphasie ge-
schildert wurde. Vieles gelingt ihm geläufig, besonders leicht hin-

*) Bei der Section eines an Alterscataract leidenden und an seniler
Atrophie des Gehirnes verstorbenen 73jährigen Mannes fand ich kürzlich den
ganzen Gyrus hippocampi und linguiformis geschwunden. Zugleich war das
Gewölbe derselben Seite grau verfärbt, der Sehhügel derselben Seite ebenfalls
grau und sehr klein, der entgegengesetzte N. opticus grau degenerirt.

lappens Regel wäre, für eine vollständige Kreuzung im Chiasma
sprechen würde.*) Die beiden Seh- und Vierhügel boten keine
Differenzen der Färbung und der Grösse.



3. Folgendes ist ein prägnanter Fall von Leitungsaphasie,
dessen Zuweisung ich der Güte des Herrn Prof. Foerster verdanke.

Beckmann, Apotheker, 64 Jahre alt, bemerkte am 15. März
1874 des Morgens, nachdem er den Abend vorher einige Gläser
Bier getrunken und die Nacht über gut geschlafen hatte, dass er
nicht mehr ordentlich lesen und noch viel weniger schreiben
konnte, obgleich er Alles mit deutlichen Umrissen sah. Er reiste
deswegen am 18. März nach Breslau, um einen Augenarzt zu
consultiren. Im Laufe desselben Tages traten die ersten Sprach-
störungen ein. Nicht die leisesten Spuren gestörten Allgemein-
befindens machten sich dabei bemerklich.

Am 20. März 1874 fand ich folgenden Status: Kräftig ge-
bauter Herr, im blühendsten Ernährungszustande, mit congestionir-
tem Kopfe. Körperlich durchaus rüstig, auch objectiv noch keine
Zeichen vorgeschrittener Senescenz. Radialis nur massig rigide,
Puls kräftig, von normaler Frequenz, nach 6—10 Schlägen aus-
setzend. Weder im Gesichte noch in den Extremitäten eine Spur
von Lähmung.

Die Herzdämpfung ist nach links etwas verbreitert, die Herz-
töne nur schwach. Kein Lungenemphysem.

Er versteht alles ganz genau, antwortet auch auf Sugge-
stivfragen immer richtig. Der Gebrauch aller Gegenstände ist
ihm genau bekannt. Er zeigt auch keine Spur von motorischer
Aphasie, denn sein Wortschatz ist unbeschränkt. Doch fehlen ihm
für viele Gegenstände, die er bezeichnen will, die Worte; er müht
sich, sie zu finden, wird erregt dabei, und nennt man ihm den
Namen, so wiederholt er ihn ohne jeden Anstoss. Es ist also
derselbe Zustand, der innerhalb der physiologischen Breite bei
vielen Menschen vorkommt, und der oben als Leitungsaphasie ge-
schildert wurde. Vieles gelingt ihm geläufig, besonders leicht hin-

*) Bei der Section eines an Alterscataract leidenden und an seniler
Atrophie des Gehirnes verstorbenen 73jährigen Mannes fand ich kürzlich den
ganzen Gyrus hippocampi und linguiformis geschwunden. Zugleich war das
Gewölbe derselben Seite grau verfärbt, der Sehhügel derselben Seite ebenfalls
grau und sehr klein, der entgegengesetzte N. opticus grau degenerirt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0051" n="47"/>
lappens Regel wäre, für eine vollständige Kreuzung im Chiasma<lb/>
sprechen würde.<note place="foot" n="*)">Bei der Section eines an Alterscataract leidenden und an seniler<lb/>
Atrophie des Gehirnes verstorbenen 73jährigen Mannes fand ich kürzlich den<lb/>
ganzen Gyrus hippocampi und linguiformis geschwunden. Zugleich war das<lb/>
Gewölbe derselben Seite grau verfärbt, der Sehhügel derselben Seite ebenfalls<lb/>
grau und sehr klein, der entgegengesetzte N. opticus grau degenerirt.</note> Die beiden Seh- und Vierhügel boten keine<lb/>
Differenzen der Färbung und der Grösse.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>3. Folgendes ist ein prägnanter Fall von Leitungsaphasie,<lb/>
dessen Zuweisung ich der Güte des Herrn Prof. Foerster verdanke.</p><lb/>
          <p>Beckmann, Apotheker, 64 Jahre alt, bemerkte am 15. März<lb/>
1874 des Morgens, nachdem er den Abend vorher einige Gläser<lb/>
Bier getrunken und die Nacht über gut geschlafen hatte, dass er<lb/>
nicht mehr ordentlich lesen und noch viel weniger schreiben<lb/>
konnte, obgleich er Alles mit deutlichen Umrissen sah. Er reiste<lb/>
deswegen am 18. März nach Breslau, um einen Augenarzt zu<lb/>
consultiren. Im Laufe desselben Tages traten die ersten Sprach-<lb/>
störungen ein. Nicht die leisesten Spuren gestörten Allgemein-<lb/>
befindens machten sich dabei bemerklich.</p><lb/>
          <p>Am 20. März 1874 fand ich folgenden Status: Kräftig ge-<lb/>
bauter Herr, im blühendsten Ernährungszustande, mit congestionir-<lb/>
tem Kopfe. Körperlich durchaus rüstig, auch objectiv noch keine<lb/>
Zeichen vorgeschrittener Senescenz. Radialis nur massig rigide,<lb/>
Puls kräftig, von normaler Frequenz, nach 6&#x2014;10 Schlägen aus-<lb/>
setzend. Weder im Gesichte noch in den Extremitäten eine Spur<lb/>
von Lähmung.</p><lb/>
          <p>Die Herzdämpfung ist nach links etwas verbreitert, die Herz-<lb/>
töne nur schwach. Kein Lungenemphysem.</p><lb/>
          <p>Er versteht alles ganz genau, antwortet auch auf Sugge-<lb/>
stivfragen immer richtig. Der Gebrauch aller Gegenstände ist<lb/>
ihm genau bekannt. Er zeigt auch keine Spur von motorischer<lb/>
Aphasie, denn sein Wortschatz ist unbeschränkt. Doch fehlen ihm<lb/>
für viele Gegenstände, die er bezeichnen will, die Worte; er müht<lb/>
sich, sie zu finden, wird erregt dabei, und nennt man ihm den<lb/>
Namen, so wiederholt er ihn ohne jeden Anstoss. Es ist also<lb/>
derselbe Zustand, der innerhalb der physiologischen Breite bei<lb/>
vielen Menschen vorkommt, und der oben als Leitungsaphasie ge-<lb/>
schildert wurde. Vieles gelingt ihm geläufig, besonders leicht hin-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[47/0051] lappens Regel wäre, für eine vollständige Kreuzung im Chiasma sprechen würde. *) Die beiden Seh- und Vierhügel boten keine Differenzen der Färbung und der Grösse. 3. Folgendes ist ein prägnanter Fall von Leitungsaphasie, dessen Zuweisung ich der Güte des Herrn Prof. Foerster verdanke. Beckmann, Apotheker, 64 Jahre alt, bemerkte am 15. März 1874 des Morgens, nachdem er den Abend vorher einige Gläser Bier getrunken und die Nacht über gut geschlafen hatte, dass er nicht mehr ordentlich lesen und noch viel weniger schreiben konnte, obgleich er Alles mit deutlichen Umrissen sah. Er reiste deswegen am 18. März nach Breslau, um einen Augenarzt zu consultiren. Im Laufe desselben Tages traten die ersten Sprach- störungen ein. Nicht die leisesten Spuren gestörten Allgemein- befindens machten sich dabei bemerklich. Am 20. März 1874 fand ich folgenden Status: Kräftig ge- bauter Herr, im blühendsten Ernährungszustande, mit congestionir- tem Kopfe. Körperlich durchaus rüstig, auch objectiv noch keine Zeichen vorgeschrittener Senescenz. Radialis nur massig rigide, Puls kräftig, von normaler Frequenz, nach 6—10 Schlägen aus- setzend. Weder im Gesichte noch in den Extremitäten eine Spur von Lähmung. Die Herzdämpfung ist nach links etwas verbreitert, die Herz- töne nur schwach. Kein Lungenemphysem. Er versteht alles ganz genau, antwortet auch auf Sugge- stivfragen immer richtig. Der Gebrauch aller Gegenstände ist ihm genau bekannt. Er zeigt auch keine Spur von motorischer Aphasie, denn sein Wortschatz ist unbeschränkt. Doch fehlen ihm für viele Gegenstände, die er bezeichnen will, die Worte; er müht sich, sie zu finden, wird erregt dabei, und nennt man ihm den Namen, so wiederholt er ihn ohne jeden Anstoss. Es ist also derselbe Zustand, der innerhalb der physiologischen Breite bei vielen Menschen vorkommt, und der oben als Leitungsaphasie ge- schildert wurde. Vieles gelingt ihm geläufig, besonders leicht hin- *) Bei der Section eines an Alterscataract leidenden und an seniler Atrophie des Gehirnes verstorbenen 73jährigen Mannes fand ich kürzlich den ganzen Gyrus hippocampi und linguiformis geschwunden. Zugleich war das Gewölbe derselben Seite grau verfärbt, der Sehhügel derselben Seite ebenfalls grau und sehr klein, der entgegengesetzte N. opticus grau degenerirt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/51
Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/51>, abgerufen am 28.03.2024.