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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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des Beweises anzutreten. Die ganze Mannigfaltigkeit nämlich der
klinischen Bilder der Aphasie bewegt sich zwischen zwei Extremen,
der rein motorischen Aphasie und der rein sensorischen. Das
Vorhandensein dieser beiden Formen müsste als ein unwiderleg-
licher Beweis dafür betrachtet werden, dass zwei anatomisch differente
Centren für die Sprache existiren.

Während nun die reine motorische Aphasie in der Literatur
häufig anzutreffen ist, so dass an ihrem Vorkommen und an der
Erkrankung der I. Stirnwindung dabei nicht mehr wohl gezweifelt
werden kann, ist von der reinen sensorischen Form, so viel mir
bekannt, noch kein einziger prägnanter Fall in der Literatur ver-
zeichnet. Mir gelangten zwei derartige Fälle zur Beobachtung, von
denen der eine noch jetzt in der Irrenstation des Allerheiligen-
Hospitales sich befindet.



1. Susanne Adam, geb. Sommer, Arbeiterswitwe, 59 Jahre
alt, erkrankte plötzlich ohne bekannte Ursache am 1. März 1874
mit Schwindelgefühl und Kopfschmerzen, aber ohne Verlust des
Bewusstseins derart, dass sie verwirrt sprach, nur manchmal sich
richtig ausdrückte, auf Fragen aber völlig verkehrt antwortete.
Ihren Klagen über Kopfschmerzen und Schwächegefühl wusste sie
richtig Ausdruck zu geben, doch mischte sie in Alles, was sie
sagte, das unverständliche Wort "begräben" ein. Sie legte sich,
nachdem sie noch wie gewöhnlich ihr Mittagsessen zu sich ge-
nommen hatte, ins Bett und wurde am nächsten Tage auf eine
innere Station des Allerheiligen-Hospitales aufgenommen. Dort
wurde ihr Zustand einfach für Verwirrtheit gehalten, und sie des-
wegen, da keine körperliche Erkrankung nachzuweisen war, auf
die Irrenstation verlegt. Dort wurde am 7. März 1874 folgender
Status aufgenommen. Schwächlich gebaute, mässig gealterte Frau,
rechts mit Cataracta senilis, links mit einem künstlichen Coloboma
iridis behaftet, von intelligentem, entgegenkommendem Gesichts-
ausdruck. Im Gange zeigen sich keinerlei Störungen, der Hände-
druck ist beiderseits schwach, dabei links etwas schwächer als
rechts. Die Sensibilität, durch Nadelstiche geprüft, zeigt sich all-
gemein etwas abgestumpft, indem nur an Fingern und Zehen und im
Gesicht schon leichtere Nadelstiche Schmerzenszeichen hervorrufen.
Die Gefässe sind alle sehr geschlängelt und als harte Stränge zu
fühlen, auch die Temporales superficiales. An Herz und Lungen
nichts Abnormes. Das Gehör, durch Vorhalten der Uhr bestimmt,

des Beweises anzutreten. Die ganze Mannigfaltigkeit nämlich der
klinischen Bilder der Aphasie bewegt sich zwischen zwei Extremen,
der rein motorischen Aphasie und der rein sensorischen. Das
Vorhandensein dieser beiden Formen müsste als ein unwiderleg-
licher Beweis dafür betrachtet werden, dass zwei anatomisch differente
Centren für die Sprache existiren.

Während nun die reine motorische Aphasie in der Literatur
häufig anzutreffen ist, so dass an ihrem Vorkommen und an der
Erkrankung der I. Stirnwindung dabei nicht mehr wohl gezweifelt
werden kann, ist von der reinen sensorischen Form, so viel mir
bekannt, noch kein einziger prägnanter Fall in der Literatur ver-
zeichnet. Mir gelangten zwei derartige Fälle zur Beobachtung, von
denen der eine noch jetzt in der Irrenstation des Allerheiligen-
Hospitales sich befindet.



1. Susanne Adam, geb. Sommer, Arbeiterswitwe, 59 Jahre
alt, erkrankte plötzlich ohne bekannte Ursache am 1. März 1874
mit Schwindelgefühl und Kopfschmerzen, aber ohne Verlust des
Bewusstseins derart, dass sie verwirrt sprach, nur manchmal sich
richtig ausdrückte, auf Fragen aber völlig verkehrt antwortete.
Ihren Klagen über Kopfschmerzen und Schwächegefühl wusste sie
richtig Ausdruck zu geben, doch mischte sie in Alles, was sie
sagte, das unverständliche Wort „begräben‟ ein. Sie legte sich,
nachdem sie noch wie gewöhnlich ihr Mittagsessen zu sich ge-
nommen hatte, ins Bett und wurde am nächsten Tage auf eine
innere Station des Allerheiligen-Hospitales aufgenommen. Dort
wurde ihr Zustand einfach für Verwirrtheit gehalten, und sie des-
wegen, da keine körperliche Erkrankung nachzuweisen war, auf
die Irrenstation verlegt. Dort wurde am 7. März 1874 folgender
Status aufgenommen. Schwächlich gebaute, mässig gealterte Frau,
rechts mit Cataracta senilis, links mit einem künstlichen Coloboma
iridis behaftet, von intelligentem, entgegenkommendem Gesichts-
ausdruck. Im Gange zeigen sich keinerlei Störungen, der Hände-
druck ist beiderseits schwach, dabei links etwas schwächer als
rechts. Die Sensibilität, durch Nadelstiche geprüft, zeigt sich all-
gemein etwas abgestumpft, indem nur an Fingern und Zehen und im
Gesicht schon leichtere Nadelstiche Schmerzenszeichen hervorrufen.
Die Gefässe sind alle sehr geschlängelt und als harte Stränge zu
fühlen, auch die Temporales superficiales. An Herz und Lungen
nichts Abnormes. Das Gehör, durch Vorhalten der Uhr bestimmt,

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[39/0043] des Beweises anzutreten. Die ganze Mannigfaltigkeit nämlich der klinischen Bilder der Aphasie bewegt sich zwischen zwei Extremen, der rein motorischen Aphasie und der rein sensorischen. Das Vorhandensein dieser beiden Formen müsste als ein unwiderleg- licher Beweis dafür betrachtet werden, dass zwei anatomisch differente Centren für die Sprache existiren. Während nun die reine motorische Aphasie in der Literatur häufig anzutreffen ist, so dass an ihrem Vorkommen und an der Erkrankung der I. Stirnwindung dabei nicht mehr wohl gezweifelt werden kann, ist von der reinen sensorischen Form, so viel mir bekannt, noch kein einziger prägnanter Fall in der Literatur ver- zeichnet. Mir gelangten zwei derartige Fälle zur Beobachtung, von denen der eine noch jetzt in der Irrenstation des Allerheiligen- Hospitales sich befindet. 1. Susanne Adam, geb. Sommer, Arbeiterswitwe, 59 Jahre alt, erkrankte plötzlich ohne bekannte Ursache am 1. März 1874 mit Schwindelgefühl und Kopfschmerzen, aber ohne Verlust des Bewusstseins derart, dass sie verwirrt sprach, nur manchmal sich richtig ausdrückte, auf Fragen aber völlig verkehrt antwortete. Ihren Klagen über Kopfschmerzen und Schwächegefühl wusste sie richtig Ausdruck zu geben, doch mischte sie in Alles, was sie sagte, das unverständliche Wort „begräben‟ ein. Sie legte sich, nachdem sie noch wie gewöhnlich ihr Mittagsessen zu sich ge- nommen hatte, ins Bett und wurde am nächsten Tage auf eine innere Station des Allerheiligen-Hospitales aufgenommen. Dort wurde ihr Zustand einfach für Verwirrtheit gehalten, und sie des- wegen, da keine körperliche Erkrankung nachzuweisen war, auf die Irrenstation verlegt. Dort wurde am 7. März 1874 folgender Status aufgenommen. Schwächlich gebaute, mässig gealterte Frau, rechts mit Cataracta senilis, links mit einem künstlichen Coloboma iridis behaftet, von intelligentem, entgegenkommendem Gesichts- ausdruck. Im Gange zeigen sich keinerlei Störungen, der Hände- druck ist beiderseits schwach, dabei links etwas schwächer als rechts. Die Sensibilität, durch Nadelstiche geprüft, zeigt sich all- gemein etwas abgestumpft, indem nur an Fingern und Zehen und im Gesicht schon leichtere Nadelstiche Schmerzenszeichen hervorrufen. Die Gefässe sind alle sehr geschlängelt und als harte Stränge zu fühlen, auch die Temporales superficiales. An Herz und Lungen nichts Abnormes. Das Gehör, durch Vorhalten der Uhr bestimmt,

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/43>, abgerufen am 19.04.2024.